Women’s Time 2022
Zu Laura Mulveys Besuch in Zürich.
Am 1. Dezember 2022 ist Laura Mulvey die erste, die mit einem Text auf das Ergebnis der jüngsten Umfrage von Sight and Sound reagiert, die einmal pro Dekade den bedeutendsten Film aller Zeiten ausruft.1 Chantal Akermans Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles war soeben zum «greatest film of all time» gekürt worden – zum ersten Mal in 70 Jahren ist der Film einer Regisseurin an die Spitze gewählt. Ohne sich über den Sinn oder Unsinn solcher Bestenlisten auszulassen, erkennt Mulvey das Historische dieser Wahl an. Seien es die Veränderungen, welche die #metoo-Debatte in Gang gebracht haben, oder eine neue Rezeptionsbereitschaft, die dem ‘slow cinema’ gilt – dass der dreieinhalbstündige, feministische Avantgarde-Film Jeanne als Siegerin aus der 2022 Abstimmung hervorgegangen ist, zeige einen Kulturwandel an und das sei Grund zur Freude all jener, für die Citizen Kane und Vertigo nicht länger den Maßstab bilden konnten: «for me, and for all of us who have been rooting for Jeanne Dielman over the decades, this is an extraordinary moment of celebration.» Mit der Wahl ist die alte Größenordnung, nach der Hollywood zwangsläufig die vorderen Plätze besetzt hielt, über den Haufen: «Things will never be the same.»2
Wandel kommt nicht über Nacht. Und auch ein Text über den Wandel nicht. Was Mulvey in ihrem Beitrag zum Gewinnerfilm Jeanne Dielman entwickelt, geht über eine spontane Reaktion auf das Abstimmungsergebnis hinaus, beleuchtet die Gestaltungsmittel, die Lichtsetzung und Bauart, die Wirkung und Rezeption des Films in den 1970er Jahren. Ein solcher Text braucht Zeit und es war schön, etwas von dieser Zeit mit Laura Mulvey in Zürich gemeinsam zu verbringen. Während ihres Besuchs in der Schweiz vom 05.11. bis 11.11.22 hat sich die bekannte Filmwissenschaftlerin immer wieder zum Nachdenken und Schreiben zurückgezogen – Überlegungen zu Jeanne Dielman für Sight and Sound auf Kosten von Sightseeing. Ich glaube das berühmte Alpenpanorama hat Laura Mulvey nur einmal gesehen.
Im Rückblick auf ihren Besuch gibt mir das zu denken. Weil es zeigt, dass das akademische Schreiben vor Umständen oder dem Alter nicht von selbst haltmacht – Laura Mulvey ist mittlerweile in ihren 80ern – und, dass auch in diesem Lebensabschnitt Abgabetermine den Takt bestimmen. Das gilt vermutlich nur, wenn die eigene Resonanz sehr groß ist. Würde ich, sollte ich jemals vor der Wahl stehen, ähnlich entscheiden? Wie oft habe ich im letzten halben Jahr den Alpen den Vorzug gegeben vor einem Text? Offenbar bin ich schon angeweht von einem Hauch Schneeflocke, jener Generation, der man zuschreibt, sie hätte die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit besonders im Blick, bzw. die die Grenzen der eigenen Wirksamkeit. Was davon ist individuelle Haltung, was historische Situation?
Laura Mulvey hat ein ausgeprägtes Bewusstsein für historische Momente, etwa wenn sie über Jeanne Dielman schreibt: «the sense of unrepeatability is rooted in the 1970s and in the consciousness and the possibilities associated with feminism and the avant garde.» In Zürich zog sich die Frage, wie Äußerungen oder Projekte mit ihren historischen Ermöglichungsbedingungen zusammenfallen, durch alle drei Veranstaltungen, zu denen sie das Seminar für Filmwissenschaft eingeladen hatte: ein Vortrag über die Ausstellung Frida Kahlo and Tina Modotti von 1982 im historischen Saal des Cabaret Voltaire in der Spiegelgasse, ein Gespräch über den Film Crystal Gazing (R: Laura Mulvey/Peter Wollen UK 1982) im Kino Xenix am Helvetiaplatz und ein Workshop mit Doktorierenden unter dem Titel «Women’s Time /Cinematic Time» in den Seminarräumen des Instituts in Oerlikon. Auch in ihrem Text zu Chantal Akerman kommt diese Frage vor: «[T]he film raises an issue that is hard to articulate: how the energy and creative demands of a political movement interact with the energy and creativity of an individual; when, that is, someone touches, and then draws on, a nerve of urgency beyond the sum of his or her parts, the product is more exemplary than personal, more transcendent than subjective.”3
Ich glaube, Laura Mulvey beschäftigt diese Frage, weil ihr selbst die Verbindung von individuellem Einsatz und gesellschaftlicher Resonanz mehr als einmal gelungen ist: Natürlich mit dem Aufsatz Visual Pleasure, der die Energien von Psychoanalyse und Feminismus in den 1970er Jahren zu bündeln verstand, genau in dem historischen Moment, in dem diese Verbindung ein großes Echo entwickeln konnte, aber auch als sie, gemeinsam mit Peter Wollen, Anfang der 1980er Jahre die Bilder von Frida Kahlo ausstellte, als, wie man sagt, die Zeit dafür reif war. Jemand muss erstmal erkennen, dass eine Zeit für etwas reif ist. Die Ausstellung Frida Kahlo and Tina Modotti in der Whitechapel Gallery in London, die später nach Berlin, Hannover, Hamburg, Stockholm, New York und Mexiko-Stadt reiste, löste die Rezeption der damals noch eher unbekannten mexikanischen Malerin aus.4 Was man sich heute kaum noch vorstellen kann: wie die Bemühung von Wenigen die Möglichkeit einer globalen und generationenübergreifenden Rezeption von Vielen geschaffen hat. Nicht alle ihre Arbeiten haben den historischen Moment so erwischt wie Visual Pleasure oder die Kahlo-Ausstellung, kommentiert Mulvey lachend. Dennoch werde ich den Verdacht nicht los, dass bei aller Betonung von Kontingenz und der «Gunst der Stunde», die sie in den Vordergrund stellt, auch eine Vehemenz und ein Behauptungswissen im Spiel waren, die man als Eigenleistung stehen lassen muss. Also zu den Räumen, die Laura Mulvey selbst eröffnet.
Auf dem Klappentext ihres Buchs Afterimages gibt es ein Zitat: «She secured the space for Women to be permitted expression». Über dieses Zitat lässt sich lange nachdenken – was soll die Passivkonstruktion? Warum bedarf es überhaupt einer Erlaubnis für Frauen sich über ihre Sitation zu äußern? Wer kann diesen Raum eröffnen? Während des Aufenthalts von Laura Mulvey in Zürich wurde mir nochmal klar, was das meint, und ich kann mich mit der Aussage gut verbinden: «She secured the space for Women to be permitted expression».
Es gibt Wissenschaftlerinnen – Laura Mulvey gehört zu ihnen – die es anderen erleichtern sich zu äußern. Das ist spürbar an der Atmosphäre, die sich in ihrer Gegenwart einstellt. Nicht alle finden mit der Anerkennung, die mit einer bestimmten Resonanz innerhalb der Universität einherkommt, einen so schönen und gelassenen Umgang. Ich denke, dahinter liegt eine persönliche wie politische Entscheidung: zum Interesse am Gegenüber, zur Empathie, zur Wertschätzung der Arbeit anderer, zum Humor. Dafür abschließend ein Beispiel: Am Ende des Doktorierenden-Workshops, der schon ein paar Stunden lief, wollte sie noch einen Punkt machen und meinte über sich selbst: «It’s like a Horrorfilm, you think Its over, but it keeps going on.» Nach meinem Empfinden darf es noch lange weitergehen. Wenn es eine Liste gäbe mit den Top 100 akademischen Gästen – und zum Glück gibt es so etwas nicht – wüsste ich, wer für mich gerade den ersten Platz besetzt.
Der Vortrag, den Laura Mulvey am 08.11.22 im Cabaret Voltaire gehalten hat, ist gerade erschienen in: Laura Mulvey/Peter Wollen: Kahlo/Modotti. Forty Years Later, hg. von Pascal Maslon, Volker Pantenburg, Caroline Schöbi und Linda Waack, Berlin: Harun Farocki Institut 2024. [HaFI 021]
Bevorzugte Zitationsweise
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