Zur Handreichung der Gesellschaft für Medienwissenschaft über PostDoc-Qualifikation und Berufbarkeit
Die prekäre Situation des sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchses, der Missbrauch von befristeten Beschäftigungsverhältnissen und die strukturelle Benachteiligung von promovierten Medienwissenschaftler:innen in unserem Fach war seit der Entstehung der Initiative und der späteren Kommission für Gute Arbeit in der Medienwissenschaft ihr zentrales Thema. Diskussionen um mögliche Qualifikationsschritte nach der Promotion zeigen, wie der unklare und oft widersprüchliche Stand zur Habilitation und zu alternativen oder äquivalenten Leistungen mit diesen Benachteiligungen verwoben ist. Dass die Habilitation in Frage zu stellen ist1 und professionelle medienwissenschaftliche Arbeit unabhängig von der Habilitation stattfindet,2 sind Ausgangspunkte, aber noch keine hinreichenden Antworten auf die Frage danach, wie der Nachweis weiterer akademischer Leistungen nach der Promotion gestaltet werden könnte.
Nach der Festlegung der Gesellschaft für Medienwissenschaft auf die Resolution (2015) und dann den Kodex (2017) für Gute Arbeit in der Medienwissenschaft ist klar, dass die Qualifikation für eine unbefristete Tätigkeit in unserem Fach spätestens mit der Promotion nachgewiesen ist. Weitere Qualifikationsziele und -nachweise können nur für weitere Karrierestufen, etwa die Berufbarkeit auf eine Professur, aber auch als Nachweis für Bewerbungen auf weiterführende Stellen und für eigene drittmittelfinanzierte Projekte diskutiert werden.
Die Handreichung über PostDoc-Qualifikation und Berufbarkeit geht von diesen Grundsätzen aus. Nach mehrjährigen Diskussionen in der Kommission und weiteren Arbeitsgruppen sowie auf Veranstaltungen auf den Jahrestagungen3 wurde sie 2022 auf der Mitgliederversammlung verabschiedet. Die Handreichung umreißt das wissenschaftliche Profil, das sowohl zur Einschätzung von Berufbarkeit als auch zur Orientierung bei der Ausgestaltung von Stellen mit Qualifikationszielen dienen kann. Sie versucht dabei, der Vielfalt unterschiedlicher Qualifikations- und Arbeitsbedingungen nach der Promotion gerecht zu werden. Sie kann für Entscheidungen über Stellenausschreibungen und in Berufungskommissionen sowie für Tenure Track-Verfahren zum Einsatz kommen. Darüber hinaus versteht sie sich als Beitrag zur fortgesetzten Debatte um das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und die Kontroverse um die aktuell noch bestehende Ausnahmeregelung für die befristete Beschäftigung nach der Promotion.
Einzelne Punkte der Handreichung haben seit der Verabschiedung Diskussionen und Einwände hervorgerufen – und das ist gut so. Das macht deutlich, dass über diese erste Orientierung hinaus weitere Debatten nötig sind: Wie sind Qualifikationsperspektiven für andere Hochschulen als Universitäten zu gestalten? Wie können die vorgeschlagenen Qualifikationen für die besonderen Anforderungen in einzelnen Fachteilen spezifiziert werden? Die Debatten betreffen selbstverständlich auch die weiterhin dringend zu führenden Gespräche über die Ausgestaltung von Anstellungsformaten nach der Promotion und über die Strukturierung wissenschaftlicher Forschung und Lehre. Diese Fragen können und sollen durch die Handreichung nicht ersetzt oder eingefroren werden, sondern sie soll im Gegenteil als Erinnerung und Aufforderung an uns alle dienen, diese wichtigen Diskussionen tatsächlich auch zu führen. Vielleicht kann sie einige der dafür zentralen Fragen fokussieren und konkretisieren.
Handreichung der Gesellschaft für Medienwissenschaft: PostDoc-Qualifikation und universitäre Berufbarkeit in der Medienwissenschaft
Die folgenden Anhaltspunkte umreißen das wissenschaftliche Profil, das nach Einschätzung der Gesellschaft für Medienwissenschaft Ziel einer Qualifikation in diesem Fach nach der Promotion sein kann. Sie können sowohl zur Einschätzung von Berufbarkeit als auch zur Orientierung bei der Ausgestaltung von Stellen mit Qualifikationszielen dienen.
Dieser Handreichung liegen die im Kodex für gute Arbeit in der Medienwissenschaft formulierten Ziele und Grundsätze zugrunde. Dazu gehört die Forderung nach der entfristeten, sozialversicherten Vollzeitbeschäftigung nach der Promotion als Regelfall. Im Rahmen der regelmäßig vorgesehenen eigenen Forschung, selbstbestimmten Lehre und Beteiligung an der akademischen Selbstverwaltung sollte Gelegenheit zur weiteren Qualifikation gegeben werden. Die folgenden Annahmen bieten eine Richtlinie dafür, welche Dienstaufgaben geeignet und welche Voraussetzungen dafür notwendig sind. Insbesondere in Fällen, in denen die Ausnahmeregelung der Sonderbefristung nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz greifen soll, sollten alle übertragenen Aufgaben sowie die Arbeitsbedingungen und die Laufzeit einer solchen Beschäftigung dem Ziel einer Qualifikation nach diesen Kriterien entsprechen.
Für Berufungsverfahren auf Lebenszeitprofessuren sollen die folgenden Kriterien eine Orientierung bieten, um sich über die grundsätzliche Berufbarkeit der Kandidat:innen zu verständigen. In Tenure Track-Verfahren können sie zugleich einen Rahmen für die Qualifikationsziele definieren, die im Allgemeinen am Ende der TT-Phase erreicht sein sollen, und denen daher die Ausgestaltung der TT-Phase dienen muss. In Evaluationen und Berufungsverfahren sind grundsätzlich und unbedingt Kenntnisse und Maßnahmen zur Geschlechtergerechtigkeit und Diversität vorauszusetzen, um intersektionale Benachteiligungen auszugleichen und die Diversität des Kollegiums zu vergrößern.
1. Kompetenzen in der Lehre
Die Berufbarkeit am Ende einer PostDoc-Qualifikationsphase hat in der Regel,
- wer Lehrerfahrung im Umfang von insgesamt etwa 24 SWS gesammelt hat
- dabei sowohl breit angelegte Kurse (Grundlagenveranstaltungen, Einführungen)
- als auch vertiefende Kurse zu Aufbau- und Forschungsthemen unterrichtet hat
- sowie Prüfungserfahrung hat
Wir empfehlen zur zusammenfassenden Erhebung der Kompetenz in der Lehre
- ein Lehrkonzept oder -portfolio
- ein Betreuungskonzept
- studentische Evaluationen von 1-3 Lehrveranstaltungen, möglichst in BA und MA
Letzteres setzt Bedingungen für die Arbeit und die Lehre voraus, in denen sinnvolle Evaluationen erhoben werden können. Ungünstige Studienbedingungen, die einzelne Lehrende nicht beheben können, dürfen sich nicht auf die Evaluation ihrer Lehre auswirken. Wo dies doch der Fall ist, sollten Lehrende ermutigt werden, begleitende Stellungnahmen zu verfassen. Die Einschätzung von Evaluationen setzt zudem eine Vertrautheit mit der intersektionalen Benachteiligung bestimmter Lehrender in Evaluationsverfahren voraus.
Alternative oder zusätzliche Qualifikationen in der Lehre können nachgewiesenen werden durch
- Internationalität (Betreuung von Austauschstudierenden, fremdsprachige LVs, internationale Lehrerfahrung)
- besonderes nachgewiesenes Engagement für innovative Lehrformate
- weitere Evaluationen durch peers oder Hochschuldidaktiker:innen
- die Betreuung von Abschlussarbeiten
- hochschuldidaktische Weiterbildungen und entsprechende Zertifikate
- Auszeichnungen und Preise
2. Kompetenzen in der Forschung
Die Befähigung zur eigenständigen Forschung wird in der Regel durch eine abgeschlossene Promotion nachgewiesen. Ein darüber hinausgehendes, vertieftes und breites Spektrum an Forschungskompetenzen wird durch weitere Forschungsschwerpunkte, die Präsentation der Forschungsergebnisse und die aktive Teilhabe an wissenschaftlichen Kooperationen erreicht.
2.1 Publikationen
Forschungsergebnisse werden in erster Linie durch Publikationen belegt. Als berufbar auf eine Lebenszeitprofessur kann gelten, wer neben der Dissertation in mindestens einem weiteren Forschungsbereich oder mehreren Forschungsfeldern
entweder
a) eine weitere, eigenständige wissenschaftliche Monografie (das sogenannte «zweite Buch», unabhängig von ihrer Einreichung oder Begutachtung als Habilitationsschrift)
oder
b) mehrere wissenschaftliche Aufsätze, die im Umfang einem solchen Buch entsprechen – in der Regel etwa 5 umfangreiche und substanzielle Beiträge –, veröffentlicht hat.
2.2 Herausgaben und Editionen
Die substanzielle, eigenständig konzipierte, auch kollaborative Herausgabe oder Edition von kritischen und kommentierten Ausgaben, Lehrbüchern, Sammelbänden und Zeitschriftenschwerpunkten weist weitere Forschungsschwerpunkte sowie die wissenschaftliche Vernetzung in diesem Bereich nach.
2.3 Vorträge
Aktuelle Forschungen werden in regelmäßigen Abständen, etwa zweimal im Jahr, in deutschsprachigen und internationalen Vorträgen und Konferenzbeiträgen zur Diskussion gestellt.
2.4 Vernetzung
Kandidat:innen bedürfen der Erfahrung in wissenschaftlichen Kooperationen, Netzwerken oder Projektverbünden. Als berufbar kann gelten, wer darstellen kann, dass sie:er in mindestens einem Projektzusammenhang eigene Forschung in aktivem Dialog mit weiteren Forschenden betrieben hat.
Alternative oder zusätzliche Qualifikationen in der Forschung können nachgewiesen werden durch
- weitere, auch kleinere wissenschaftliche Publikationen, Rezensionen, wissenschaftliche Übersetzungen und Vorträge
- Tätigkeiten als Gutachter:in oder Herausgeber:in in einem Peer-Review-Journal
- Beiträge zur Wissenschaftskommunikation
- die eigenständige Verantwortung für zweit- oder drittmittelgeförderte Forschungsprojekte. Das schließt ein:
- die eigenständige Einwerbung eines geförderten Projekts, einer eigenen Stelle oder eines Forschungsstipendiums; oder
- die federführende Beteiligung an der Erarbeitung eines substanziellen Drittmittelantrags; oder
- die Beteiligung als Teilprojektleitung, Koordinator:in oder wissenschaftliche Mitarbeiter:in mit Verantwortung für die Zusammenarbeit im Projekt.
- internationalen Austausch. Das schließt ein:
- internationale Forschungsaufenthalte oder wissenschaftliche Anstellungen, insbesondere im nicht-deutschsprachigen Ausland;
- Beteiligung an internationalen Kooperationen, Netzwerken oder Projekten; insbesondere als Initiator:in oder Projektleitung;
- Veröffentlichungen in nicht-deutschsprachigen Publikationen;
- Konzeption und Organisation internationaler Panels, Gastvorträge, Workshops und Konferenzen;
- Vorträge auf internationalen Konferenzen.
- Auszeichnungen und Preise. Sie sind keine Voraussetzung für eine Professur. Sie können jedoch als besondere Würdigung der Leistungen der:des Kandidat:in anerkannt werden.
3. Erfahrungen in der akademischen Selbstverwaltung
Von Stelleninhaber:innen einer Lebenszeitprofessur müssen Erfahrungen in der Initiierung, Moderierung oder Begleitung politischer und administrativer Prozesse im akademischen Bereich erwartet werden. Diese können nachgewiesen werden z.B. durch Erfahrungen in:
- Akad. Selbstverwaltung im engeren Sinne
- (Gremien an Universitäten und in wiss. Gesellschaften, u.a. Fakultätsrat, Senat, usw.)
- Wissenschaftsmanagement, z.B.
- Projektleitung/-koordination
- Budgetplanung Drittmittel und finanzielle Abwicklung
- Kommunikation (extern/intern)
- Personalverantwortung / Fortbildung zwecks Erwerb von Führungskompetenz
- Universitäre Administration, z.B.
- Lehrplanung
- Studienkoordination
- Studienberatung
Eine alternative oder zusätzliche Qualifikation kann unter anderem in der Kenntnis der Strukturen und Abläufe verschiedener medienwissenschaftlicher Standorte bestehen, in Erfahrungen in der studentischen Selbstverwaltung und Vertretung, in der Studiengangsentwicklung oder Akkreditierung, oder auch in Gremienerfahrungen auch in außeruniversitären Einrichtungen (Stiftungen, Vereine, etc.).
- 1Conradi, Tobias; Kirsten, Guido; Reinerth, Maike Sarah: Die Habilitation in Frage stellen. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Jg. 12, Heft 22 (1/2020): Medium | Format, 152–155. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/13643.
- 2Packard, Stephan: Gute wissenschaftliche Arbeit nach der Promotion ist keine Frage der Habilitation. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Jg. 12, Heft 22 (1/2020): Medium | Format, 156-160. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/13644.
- 3Wir danken besonders Friedrich Balke, Tobias Conradi, Jakob Cyrkel, Judith Ellenbürger, Maja Figge, Anne Ganzert, Sandra Nuy, Maike Reinerth, Senta Siewert, Sven Stollfuß, Thomas Waitz und Michaela Wünsch für ihren Einsatz in den gemeinsamen Gesprächen und Korrespondenzen.
Bevorzugte Zitationsweise
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