Kanon und Katalysator des Videoessays
Der Videoessay ist zwangsläufig ein politisches Format. Gegenargumente sind schwer zu finden. Sobald wir anerkennen, dass es beim Kreieren von Bedeutung immer um Lebensweltkonstruktionen geht, so wird der Videoessay wichtig – und zwar im Rahmen kulturell geprägter Gestaltungsprozesse, die gleichzeitig und fortwährend an Aufbau, Zerstörung, Neuerfindung und Rekonstruktion unserer Welten und unseres Standorts mitwirken. Ist der Videoessay dabei politischer als andere akademische Praktiken? Nein. Dennoch liegt etwas Besonderes in der Art wie der Videoessay seinen Analysegegenstand – bewegte Bilder und Ton – erschafft, was wiederum ein besonderes Augenmerk auf seine politische Wirkung nahelegt. Daher sind wir als Forschende in dieser neuen, kritischen, kreativen und investigativen akademischen Form dazu verpflichtet, ihr politisches Potenzial zu untersuchen. Das Nachdenken über Kanons ist vielleicht nicht der naheliegendste Denkansatz bezüglich Videoessays und ihrer Politik. Im Folgenden möchte ich jedoch zeigen, dass es sich durchaus lohnt, kreativ über Videoessays und Kanons zu reflektieren. Nachdem ich nun kurz einige Standarddebatten zum Kanon beleuchte, schlage ich eine Denkweise vor, die weniger auf anerkannte Listen kultureller Artefakte abzielt, sondern eher sinnvolle, produktive und kreative Antworten auf die Frage sucht, warum Videoessayist*innen eigentlich Videoessays machen.
Überlegungen zu Kanons
Innerhalb wie außerhalb der akademischen Welt bestimmen Kanons, wie wir referieren und zitieren. Von Film- und Buchempfehlungen an Freund*innen und Top-Ten-Listen im Internet bis zu Filmen und Büchern, die fortwährend in Studienprogrammen von Universitäten oder Literaturverzeichnissen akademischer Arbeiten auftauchen – formalisiertes Zitieren sowie formale Kanons sind allgegenwärtig. Oft fungieren Kanons als Diskussionsrahmen, bzw. als kulturelle Prüfsteine. ‹Wir› können uns auf diese großen US-amerikanischen oder französischen Werke beziehen; ‹wir› können gemeinsam ergründen, inwiefern diese speziellen Romane Ideen aus jenen bestimmten Romanen wiedergeben oder neu interpretieren. Die Zugehörigkeit zu einem ‹Wir› setzt oft gerade voraus, dass wir die in Kanons verankerten kulturellen Artefakte richtig zitieren. Kanons sind daher zugleich kulturell bedeutend wie umstritten. Die Geisteswissenschaften haben der Problematik des Kanons und Kanonisierens entsprechend viel Aufmerksamkeit gewidmet. In den USA scheinen wir derzeit und historisch ständig in den einen oder anderen Kulturkrieg verwickelt zu sein.
Häufig wird behauptet, die Filmwissenschaft interessiere sich weniger für Kanons als beispielsweise Literatur- und Erziehungswissenschaftler*innen.1Rosenbaum2führt zum Beispiel an, dass sich die Filmwissenschaft auf ein neueres, von breiten Gesellschaftsschichten konsumiertes Medium konzentriert und sich daher nicht so sehr wie die Literaturwissenschaft gedrängt sieht, Filme in Hierarchien einzugruppieren. Entlang dieses Arguments verweist Rosenbaum letztlich auf die Vorteile eines Filmkanons. Dabei geht es ihm speziell darum, die Dominanz der Boulevardpresse und anderer nicht-akademischer Quellen aus der Praxis der Filmkanonbildung zu verbannen. Rosenbaums Arbeit war bahnbrechend und inspirierte zahlreiche weitere Auseinandersetzungen damit,3was in den filmwissenschaftlichen Kanon gehöre, sodass schließlich das Argument, ein Kanon sei für die Filmwissenschaft nicht wichtig, nicht mehr wirklich haltbar ist. Dennoch kann man mit Recht konstatieren, dass Videoessayist*innen nicht sonderlich an muffigen, eindimensionalen Kanonlisten für Filme interessiert sind. Sicher gibt es viele hervorragende Videoessays, die von Werken handeln, die wahrscheinlich auf der einen oder anderen abgesegneten Liste auftauchen. Gleichwohl zeigen Videoessayist*innen eine nicht minder ausgeprägte leidenschaftliche Begeisterung für die reiche Vielfalt an bewegten Bildern und Tönen. Warum spreche ich also die Frage des Kanons an, wenn er für die Arbeit der Videoessayist*innen nicht von zentraler Bedeutung scheint? Weil ich glaube, dass es eine Art Kanon-Denken gibt, das in vielen Kreisen des Videoessays stattfindet, das die Beziehung zwischen Videoessay und Politik prägt, und das letztlich beeinflusst, wie der ‹Essay› im ‹Videoessay› zu verstehen ist.
Traditionelle Ansätze sehen Kanons als kulturelle Artefakte, die in bestimmter Hinsicht (ästhetisch, wirtschaftlich usw.) als bedeutend und damit als wertvoll und forschungsrelevant gelten. So wird der Kanon zu einer Art Museum bedeutender Werke oder einem Studienpflichtprogramm für Texte, die hierfür als würdig erachtet werden. Man kann Kanons jedoch auch anders betrachten. Statt als studierenswerte kulturelle Vorbilder kann man darunter auch jene Texte auflisten, die kreativ-wissenschaftliche Formen der Videoproduktion besonders inspirieren und hinterfragen. Wenngleich einzuräumen ist, dass Videoessayist*innen auf zahlreiche intellektuell-geschichtliche Tendenzen zurückgreifen, glaube ich, einen Kanon an Texten erstellen zu können, der vielfach als Katalysator für videografisches Arbeiten dient und damit letztlich die Frage, warum Videoessayist*innen Videoessays machen, sowohl anregt als auch beantwortet.
Kanons und der ‹Essay› im Videoessay
Auch wenn es unmöglich wäre, alle intellektuellen Inspirationen nachzuzeichnen, die Videoessayist*innen prägen, scheint das Werk zweier Philosophen darin wegweisend zu sein: Theodor Adorno4 und Michel de Montaigne5. Videoessayist*innen mit so verschiedenen Interessen und Ansätzen wie Catherine Grant6, Tracy Cox-Stanton7 und Alan O'Leary8 haben sich alle im Ansatz mit Theodor Adornos Der Essay als Form auseinandergesetzt. Auf dem Symposium Interrogating the Modes of Videographic Criticism im Jahr 2022 stellte Alison de Fren9 wiederum Verbindungen zwischen de Montaignes Essais und dem Videoessay her. Auch wenn die Bezüge zu Adorno und de Montaigne nicht explizit sind, scheint etwas von deren Essay-Konzepten Eingang in eine breite Palette von Videoessay-Arbeiten zu finden. Unter anderem haben Videoessayist*innen die Betonung der intellektuellen Freiheit aufgegriffen, wie Adorno sie konzipierte. Dies kann die banale, aber wichtige Frage der Anerkennung und Evaluation von Videoessays als wissenschaftliche Beiträge betreffen. Oft steht jedoch auch de Montaignes und Adornos Verständnis des Essays als offenes Experimentierfeld im Fokus. Der Schwerpunkt liegt also auf einem Denken, dass keine kreativen Möglichkeiten ausschließt. Die Videoessayist*innen handeln wie Essayist*innen, die demnach ihrer wissenschaftlichen Neugier nachgehen, indem sie ihre eigenen Denkprozesse ergründen und offenlegen. Dabei erleben sie dasselbe (oder gar gesteigerte) Vergnügen ihrer literarischen Kolleg*innen. Es sind diese Erfahrungen der Freude am Text, durch die sich das ‹Videoessaying› mit der Cinephilie verbindet. Christian Keathleys10 und Catherine Grants11 Forschung beleuchten, wie das aufmerksame Verfolgen von einzelnen Fragmenten und Momenten Rituale des Zuschauens und blitzartige Erfahrungsmomente hervorbringt bzw. aus diesen herrührt. Solche Momente können Videoessays und andere Forschungsprojekte, die den subjektiven Filmgenuss nachzeichnen, mit Leben erfüllen. Daher würde ich diese cineastisch geprägten Literaturformen dem ‹katalysierenden Kanon› zurechnen, den ich hier zu umreißen versuche. Mögen einige der Leser*innen Adorno und de Montaigne nicht als wichtig für ihre Videoessays erachten, vermute ich dennoch, dass ihnen im eigenen Schaffen oder Rezipieren von Videoessays die Aussagekraft dieser Ideen – offenes Experimentieren, intellektuelle Freiheit, subjektive, innige Erlebnisse mit bewegten Bildern – nicht verborgen bleibt. Die Frage ‹Warum machen Videoessayist*innen Videoessays?› könnte man in der Denkart dieses katalysierenden Kanons wie folgt beantworten: ‹Um herauszufinden, was sie denken und um eine Idee oder Affektion zu ergründen›.
Katalysierende Kanons können Anstöße zu wirklich bemerkenswerten Videoessays geben. Mitunter scheinen sie jedoch auch wegweisend für solche zu sein, die subjektives Vergnügen so vordergründig und intellektuelle Freiheiten so hintergründig behandeln, dass die politische Funktion sowohl des Ausgangsmaterials als auch der Videoessays kaum Beachtung findet. Im Umkehrschluss müsste man fordern, dass offenen Experimenten und Untersuchungen Raum zu geben ist, jedoch nicht ohne die politischen Konsequenzen dieser Arbeit für konkrete Menschen zu ignorieren. Ich habe einmal jemanden über seine Videoessay-Praxis sagen hören, dass er «die Bilder gerne für sich selbst sprechen lässt». Doch natürlich sprechen die Bilder nicht für sich. Sie sind fortwährend in kulturelle Kontexte und eine Reihe komplexer Lesepraktiken eingebettet, die wissenschaftlichen zu berücksichtigen sind.
Statt beispielhaft Videos anzuführen, in denen ich dies feststelle, halte ich es für sinnvoller, einige mehr oder weniger häufige Praktiken aus Videoessays darzulegen. Erstens stützen sich diese auf ein eventuelles Vorwissen des Publikums über den Film (das sich aus der Einordnung des Films in einen Kanon ergeben könnte). Eine der größten Stärken des Videoessays ist dabei, dass er die Präsenz des Filmmaterials nutzt, während andere Forschungspraktiken auf die Abstraktion des Visuellen in Textform angewiesen bleiben. Einige Videoessays stützen sich jedoch stark auf den Originalfilm und seine Verbindung zum Publikum, um ihre Botschaft direkt weiterzugeben. Dies tun natürlich auch alle sonstigen Ausdrucksformen. Wir müssen nicht jedes Mal, wenn wir etwas mitteilen wollen, eine neue Sprache erfinden. Wenn der Originalfilm jedoch tief in rassistische, heterosexistische, klassenfeindliche und nationalistische Machtstrukturen eingebettet ist, müssen Videoessays besonders viel gegen diese entmenschlichenden Ideologien aufbieten, die – wahrscheinlich einst im Originalfilm eingebaut – als geistige Gespenster zwischen Videoessay-Ausschnitten und Publikumswissen weiterleben. Verbunden mit dem Problem, sich auf das Vorwissen des Publikums zu verlassen, ist zweitens, sich auf die Schönheit des Films oder seine mitreißende Qualität zu verlassen. Ich vermute, dies kommt im cinephilen Umfeld häufig vor, ist jedoch nicht darauf zu reduzieren. Was uns manchmal zu einem Videoessay-Projekt hinzieht, ist die herausragende Kunstfertigkeit der Filmemacher*innen oder, um Keathleys Beschreibung der Cinephilie aufzugreifen, der Moment, in dem der Staubwirbel auf eine Weise eingefangen wird, die unsere Aufmerksamkeit fesselt. Was aber geschieht, wenn wir, wie ich es nenne, schöne schreckliche Dinge tun? Das heißt, Videos anfertigen, die schön sind und die Schönheit des Ausgangsmaterials einfangen, aber nichts gegen das Grauen der rassistischen, heterosexistischen, klassenfeindlichen und nationalistischen Machtstrukturen unternehmen, die den Film und/oder seine Produktion heimsuchen. Sich auf die Schönheit zu verlassen heißt auch, sich auf das Archivierte zu verlassen. Die pädagogischen Ansätze etwa des Middlebury-Workshops legen den Teilnehmer*innen nahe, die Ausgangsfilme als Bild- und Tonarchive zu betrachten. Dies ist ein kluger pädagogischer Hinweis, um Student*innen eine neue Perspektive auf Filmen zu vermitteln, die uns zunächst als scheinbar fertige Produkte begegnen. Bei der Metapher des Archivs ist jedoch Vorsicht geboten. Archive sind für koloniale Vorhaben und ebensolche, die das Selbst und sein monströses Anderes12 konstruieren, notorisch wichtig – und zwar nicht nur was das im Archiv Vorhandene, sondern auch das Nichtvorhandene betrifft. Zum Beispiel sind Hollywood-Filme dafür berüchtigt, Geschichten zu erzählen, in denen das ausgegrenzte Subjekt kein Innenleben besitzt.
Es ist schwer, eine Diskussion zu führen, die das offene Experimenten und die intellektuelle Freiheit in Frage stellt, ohne zugleich anti-intellektuell oder politisch eindimensional zu klingen. Aber ich plädiere gar nicht dafür, offenes Experimentieren und intellektuelle Freiheiten anzufechten, genauso wenig wie ich das Vergnügen am Text ablehne. Ich teile voll und ganz die von mir so interpretierte Skepsis Christian Keathleys gegenüber vorgefertigten ideologischen Analysen von Filmen (und anderen kulturellen Artefakten). Solche Interpretationen führen zwangsläufig zu Antworten, bevor Fragen überhaupt formuliert sind. Sie vereinfachen auch das, was ‹das Politische› ausmacht, auf eine klare Reihe von Maßnahmen, eine vorbestimmte Gruppe Verbündeter und eine begrenzte Anzahl von Ergebnissen. Doch Umsicht und Aufmerksamkeit für Fragen der Ungerechtigkeit müssen nicht zu einer Reduzierung kreativer intellektueller Experimente führen. Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin selbst von schwarzer Geschichte beeinflusst, in denen sich die Menschen angesichts brutaler und erdrückender Unfreiheit die Freiheit immer wieder vorstellen mussten, um politische, spirituelle, künstlerische und intellektuelle Wege der Befreiung zu finden. Das Experimentieren an Visionen mit offenem Ende war von grundlegender Bedeutung für das politische und kreative Denken der globalen schwarzen Gemeinschaften. Ich möchte daher vorschlagen, den katalysierenden Kanon für Videoessays um schwarze Diaspora-Essays zu erweitern.
Cheryl Wall hat in On Freedom and the Will to Adorn.13 The Art of the Afroamerican Essay eine hervorragende Einführung in den afroamerikanischen Zweig dieser Tradition gegeben. Wall meint, dass in diesen Werken, im schwarzen Essay, das Streben nach intellektueller Freiheit in ein Freiheitsstreben an sich übergeht. Sie stellt fest: «Schwarze Autor*innen haben den Essay so gestaltet, dass die Förderung des Kampfes für Freiheit über allem steht.»14 Rechnet man Essays und Literatur der schwarzen Diaspora dem von mir definierten katalysierenden Kanon zu, könnte dies zum erneuten Überprüfen der Freiheitsprojekte führen, die für das Videoessaying als relevant gelten.
Intellektuelle Freiheit ist von entscheidender Bedeutung, jedoch im Rahmen eines breiteren Freiheitskonzepts. Beide Vorstellungen bedingen sich gegenseitig. Essayist*innen und andere Intellektuelle schwarzer Herkunft haben sich dem Projekt der intellektuellen Freiheit im Rahmen jenes umfassenderen Projekts gewidmet und so auch den Weg dorthin geebnet. Und natürlich ermöglicht das weiter gefasste Vorhaben auch das Streben nach intellektueller Freiheit. Diese umfassendere Freiheitsidee ist bereits bei Adorno vorhanden. So ist dieser zum Beispiel darauf bedacht, eine Person zu beschreiben, die interpretiert, statt das Gegebene zu akzeptieren und es als «mit dem gelben Stern markiert»15 einzugruppieren. Eine Sichtweise jedoch, die man immer wieder in Videoessays vorfindet, vermeidet allerdings diesen expansiven Freiheitsgedanken und ersetzt ihn durch eine «besitzergreifende individualistische Freiheit»16. Die Beschäftigung mit der Tradition des Black Essay legt demgegenüber die (in den westlichen Medien oft verleugnete) Praxis der inneren Reflexion im Dienste und mit Unterstützung der Gemeinschaft offen. Das Einlassen auf den Black Essay, was Wall als «Erklärung künstlerischer Unabhängigkeit» beschreibt, stattet uns schließlich mit Werkzeugen aus, um uns intellektuell mit dem «Film als Archiv von Ton und bewegten Bildern» auseinanderzusetzen, und zwar auf eine Weise, die die «Vorläufigkeit des Archivs sowie die Interessen, die es prägen…»17 berücksichtigt.
Fazit
Ich habe bei der Diskussion um die politische Dimension von Videoessays einen gewissen Umweg genommen. Mit meinem Augenmerk auf Kanons habe ich eingeräumt, dass ein traditionelles Verständnis von Kanons von den meisten Videoessayist*innen offenbar nicht verfolgt wird. Trotzdem plädiere ich dafür, dass Kanons für die akademische Videoessay-Praxis von Bedeutung sind und meine damit, dass sie Gerechtigkeit eher fördern als hemmen müssen. Auch wenn sich Videoessayist*innen nicht für alte Filmlisten interessieren, beziehen sie sich, wie ich ermittelt habe, doch auf einige Haupttexte, die sie als Leitfäden für ihre eigene Arbeit am Videoessay benutzen. Ich habe solche Textkorpora als ‹katalysierenden Kanon› bezeichnet. Ist der hierdurch angeregte Videoessay gut, so ist er sehr, sehr gut. Ist er schlecht, so ist er ... wenn nicht grässlich, so doch zumindest beschränkt. Er zieht sich in Individualismus zurück, was auf Kosten der Ausgegrenzten passieren kann. Nicht immer ist leicht erkennbar, wann sich solch ein Individualismus manifestiert. Bestimmte Videoessays artikulieren nicht zwangsläufig alle Forschungsinteressen eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin zu bestimmten Themen. Zu den interessantesten Videoessays, die ich gesehen habe, gehören aber Video-Reihen – sowohl lose miteinander verbundene oder eng miteinander verknüpfte. Denn sie erlauben es den Autor*innen, kreative Sprünge und Wendungen zu unternehmen und Einzelteile zu erforschen, ohne einzelne Werke zu überfrachten. Dennoch muss der Videoessay stets mit dem Impuls ringen, sich so extrem auf die individuelle Reflexion zu konzentrieren, dass der größere Kontext aus dem Fokus gerät. Man darf bei alldem nicht vergessen, dass Wissenschaft ein öffentliches Handlungsfeld ist. Videoessayist*innen sind in ihrer Arbeit wahrscheinlich sogar näher an der Öffentlichkeit als viele andere Wissenschaftler*innen, da die online verbreiteten Videos oft viel attraktiver und zugänglicher sind als traditionelle akademische Arbeiten. Der Videoessay nimmt also zwangsläufig politische Züge an, unabhängig davon, ob er mit Konzepten von Freiheit und Politik ringt oder nicht. Ich schlage nicht vor, dass es Aufgabe der Videoessays ist, Kreuzzüge für eine makellose und eindeutige politische Botschaft zu führen. Vielmehr meine ich, dass sie ein wichtiger Schauplatz sind, an dem wir uns mit der visuellen Politik von Freiheit und Unfreiheit auseinandersetzen können und müssen.
- 1Jonathan Lupo: Loaded Canons: Contemporary Film Canons, Film Studies, and Film Discourse, in: Journal of American Culture, No. 34 (3), 219-233, doi.org/10.1111/j.1542-734X.2011.00776.x.; Janet Staiger: The Politics of Film Canons, in Cinema Journal, No. 24 (3), 4-23.
- 2Jonathan Rosenbaum: Essential Cinema: On the Necessity of Film Canons, Baltimore, 2004.
- 3Jonathan Lupo: Loaded Canons.
- 4Theodor Adorno: Der Essay als Form, in Nora M. Alter, Timothy Corrigan (eds.), Essays on the Essay Film. New York 2017 [1958], 60-82.
- 5Michel de Montaigne: The Essays of Michel de Montaigne. London, 1991[1580].
- 6Catherine Grant: How Long is a Piece of String? On the Practice, Scope and Value of Videographic Film Studies and Criticism. The Audiovisual Essay: Practice and Theory of Videographic Film and Moving Image Studies. 2013. https://reframe.sussex.ac.uk/audiovisualessay/frankfurt-papers/catherine-grant/#mobile-header-left-nav
- 7Tracy Cox-Stanton: Gesture in A Woman Under the Influence A Charting of Relations. NECSUS. December 21, 2019. https://necsus-ejms.org/gesture-in-a-woman-under-the-influence-a-charting-of-relations/
- 8Alan O’Leary, Nebular Epistemics A Glossary (Scholarship Like a Spider Spit).
- 9Alison de Fren: Roundtable. Symposium: Interrogating the Modes of Videographic Criticism. February 25, 2022. https://cc.au.dk/en/poetics-of-videographic-criticism/symposium-interrogating-the-modes-of-videographic-criticism
- 10Christian Keathley: Cinephilia and History, or The Wind in the Trees, Indiana, 2006.
- 11Catherine Grant: The Shudder of a Cinephiliac Idea? Videographic Film Studies Practice as Material Thinking, in: Aniki (Coimbra), No.1(1), 49-62. Doi.org/10.14591/aniki.v1n1.59.
- 12Michel-Rolph Trouillot Silencing the Past: Power and the Production of History. Boston 1995; Saidya Hartman: Scenes of Subjection: Terror, Slavery, and Self-Making in Nineteenth Century America. New York 1997; Gayatri Chakrovarty Spivak The Rani of Sirmur: An Essay in Reading the Archives in History and Theory No. 24(3) October 1985 263. Ann Laura Stoler: Along the Archival Grain: Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense. New Jersey 2010.
- 13Cheryl A. Wall: On Freedom and the Will to Adorn: The Art of the African American Essay, Chapel Hill 2019.
- 14Wall: On Freedom and the Will to Adorn, 5.
- 15Adorno: Der Essay als Form, 61.
- 16Stephanie Smallwood: Freedom in Bruce Burgett, Hendler Glenn (eds.) Keywords for American Cultural Studies, Third Edition. New York 2020.114-118.
- 17Hartman: Scenes of Subjection, 10.
Bevorzugte Zitationsweise
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