Blümlinger, Kino aus zweiter Hand
Dass sich heute avancierte künstlerische Produktionen nicht vorwiegend als originale Schöpfungen und authentische Dokumentationen, sondern als Arten der Wiederholung von gegebenem Aus- drucksmaterial, als dessen Aneignung, Anwendung und Entwendung verstehen, ist spätestens seit den 80er Jahren und Arthur Dantos hegelnahem Diktum vom Ende der Kunst bekannt. Danto sieht die Kunst damit allerdings nicht wie Hegel in Philosophie übergehen, sondern sich von fortschritts- orientierten Avantgardeansprüchen lösen und zu vielfältigen und selbstreflexiven Kunstartiku-lationen befreien. Die denn auch zu wilder Wucherung sich entfaltende, von postmodernen und dekonstruktiven Philosophien zusätzlich beförderte, mittlerweile unübersehbare Vielfalt an künst-lerischen Re-Strategien zwischen Reenactment und Post-Reappropriation ist bislang allerdings vorwiegend für den Bereich der bildenden Kunst konstatiert und beschrieben worden. Insofern stellt Christa Blümlingers historisierende Zusammenschau filmischer und medienkünstlerischer Aneignungspraktiken und -diskurse einen überfälligen, in ihrem Detailreichtum und ihrer Analyse-genauigkeit bestechenden Nachtrag dar.
Blümlinger selbst versteht ihr anspruchsvolles Vorhaben als Skizzierung „des Problemfelds der Rekonfiguration und des Nachlebens filmischer Bilder und Töne“ (10), worin sich die Annahme einer auch unbewussten Genese und Tradierung der filmischen Bild- und Tonzeichen verrät. In Nähe zu Aby Warburg lenkt sie denn auch das Augenmerk auf filmische und medienkünstlerische Mnemo-techniken, auf (un)bewusste Wiederholungs- und Umwertungsverfahren, auf technisch gestützte Anamnesen von vergessenem oder unterdrücktem Gesten- und Bildrepertoire, auf bewusste Geschichtsumschriften dank des Wiedereinsatzes gefundenen Bild- und Tonmaterials, aber vor allem auf kritische Entwürfe neuer Wahrnehmungs- und Gedächtnisformen.
Es geht ihr mithin nicht nur um die Vorgeschichte der heute banal gewordenen Praxis des digitalen „cut and paste“ und um die Wiedererinnerung daran, dass die Geschichte des Films seit Anbeginn mit Aneignungs-praktiken verbunden ist – von den Kompilationsfilmen Edwin S. Porters und Dziga Vertovs bis zur zeitgenössischen Medienkunst. Vielmehr analysiert Blümlinger die für das Medium konstitutiven Verfahrensweisen zwischen experimenteller Montage und zeitgenössischer Found-Footage-Appropriation, um eine „erweiterbare Kartographie möglicher Ausdrucksformen und entsprechender Begriffsfelder“ zu erstellen und eine „Symptomatik des Übergangs heraus-zuarbeiten, an der verschiedene Ausprägungen von Historizität, Temporalität und Darstellbarkeit sich ablesen lassen“ (10). „Übergang“ will hier Verschiedenes zugleich bezeichnen: die ästheti-schen, intermedialen und kulturellen Transformationen des Bild- und Tonmaterials, ihre archäo-logischen und dekonstruktiven Verfahren ebenso wie die begrifflichen Umschichtungen, die dank der Bezugnahme auf Archive und dank der digitalen Bearbeitungsmöglichkeiten in Film- und Medientheorie Einzug gehalten haben. Der Archivbegriff selbst wird von ihr temporalisiert und mit Foucault nach Dokumentationsleistung und Material- und Diskursgeschichte ausdifferenziert.
Aus Blümlingers zugleich zeitlich wie räumlich orientierter Untersuchung der Bild- und Ton- Migrationen und -verlagerungen bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Materialität der Archive und der verschiedenen Arten materialer und formaler Aneignung sollen sich Einblicke sowohl in die historische Ästhetik der Filmformen wie in die Geschichte der Symbolisierung ergeben. Unter-schieden werden zu diesem Zweck verschiedene Aneignungstendenzen, solche, die verstärkt das Material und seine Bedingungen reflektieren wie bei Bruce Conner, Ken Jacobs und Hollis Frampton, und solche, die „textbewusste“ Remontagen vornehmen wie in den filmischen Metageschichten von Chris Marker, Jean-Luc Godard, Alexander Kluge und Morgan Fisher. Um darin noch einmal die Variationsbreite des Appropriativen zu veranschaulichen, analysiert sie exemplarisch Ken Jacobs Rückgriffe auf präkinematographische Apparaturen, Matthias Müllers „persönlichen Kollektio-nismus“, „Misch-bildungen in Cinemascope“ bei Peter Tscherkassy, „Allegorien der Dingwelt“ bei Dieter Brehm, die erkenntnis-kritische Virtualisierung des filmischen Raums durch die Medienkünstlerin Constanze Ruhm und andere mehr.
Diese komplexe Feldforschung vermittelt dann in der Tat Einsichten in die vielfältigen künst-lerischen Versuche, Wahrnehmungsstandards zu irritieren, neue Denkweisen und politische Haltungen anzustoßen, sei es durch den kritischen Einsatz vorgefundenen Materials, sei es durch bildintensivierende und -stillstellende Verfahren, durch Ästhetiken der Entstellung und Ent- figurierung und durch kinosprengende, installative Präsentationen. Kritik an der gegebenen symbolischen Ordnung artikulieren die vorgestellten medienreflexiven Arbeiten Harun Farockis nicht weniger als die „ikonologische Poetik“ der Filmemacher Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucchi.
Dank ihrer vielsträngigen und differentiellen Erarbeitung des Problemfeldes gelingt es Blümlinger dankenswerterweise, eine medienkritische Symptomatik der Gegenwart und ihres „multimedialen Gedächtnis-theaters“ zu skizzieren, samt der wechselseitigen Verschränkung der philosophischen Diskurse mit den medialen Praktiken, den sich sophistizierenden Mediengestaltungen zu immer intellektuelleren und vermittelteren Ausdrucksformen und den fortgesetzten Erweiterungen der filmischen Projektionsanordnungen. Geschichtlichkeit erweist sich hier letztlich als Effekt zeit- räumlicher Kombinationen aus Bildan- und entwendungen, aus emphatischen Umschriften in analogen und digitalen Mischverfahren; deren absehbare Weiterfraktalisierung und unüberschau- bare Partikularisierung anzudeuten macht nicht zuletzt das Verdienst dieses Buches aus.
August 2009
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