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Onlinebesprechung

Bei Gefahr des Lebens

1.8.2009

Wissenschaft im Zeichen des Lebens, Theorie gegen das Leben im Namen des Lebens: Angesichts der jüngst wissenschaftspolitisch akklamierten Wende zu den «Lebenswissenschaften» fühlt sich die Kulturwissenschaft zu kritischer Stellungnahme aufgerufen. Denn sie macht in dieser Wende ein Symptom aus, das umso mehr Symptom ist, als die neue Wissenschaft im Zeichen eines Lebens antritt, das sich als wissenschaftlicher Gegenstand längst verflüchtigt hat. Wie also ist die Forderung nach einer Wissenschaft vom Leben zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu verstehen? Haben die KritikerInnen recht, die in der Einrichtung einer Lebenswissenschaft eine Gefahr ausmachen, insofern sie vor allem die biotechnologische Verfügung über das Lebendige sanktioniere? Ihrem Selbstverständnis gemäß fragt die Kulturwissenschaft nach den Folgen dieser wissenschaftspolitischen Ausrichtung für die symbolische Verfassung der Gesellschaft, unter anderem für die Genderpolitik.

Die HerausgeberInnen von Der Einsatz des Lebens stellen ihre Fragerichtung unter das 70er Jahre Diktum des französischen Wissenschaftshistorikers Georges Canguilhem, der bereits in den damaligen DNA-Forschungen einer «entvitalisierten Biologie» die Verflüchtigung des Gegenstandes erkannte. Wie Astrid Deuber-Mankowsky und Christoph F. E. Holzhey in ihrer Einleitung betonen, wird der Begriff der Lebenswissenschaften zu einem Zeitpunkt in Umlauf gebracht, da diese, aufgeteilt in neurowissenschaftliche, biochemische, molekular-physikalische, psychologische und andere Forschungsrichtungen, die Unterscheidung zwischen belebter und unbelebter Materie für nicht mehr angebbar erklären. Umso mehr haben die Lebenswissenschaften es heute mit Objekten zu tun, die für die Sichtbarwerdung erst präpariert werden müssen, bevor sie im Akt der Beobachtung unter Umständen zergehen.

Gleichwohl teilen die Herausgeber mit Canguilhem eine gewisse Emphase für das Leben, da es als entgrenzendes Korrektiv zu dienen hat, um mit Foucault die historisch wechselnden Bevölkerungspolitiken oder mit Agamben die problematische Unterscheidung von tierischem und menschlichem Leben kritisch in den Blick zu nehmen und letztlich das Lebendige gegen seine instrumentalisierte Vereinnahmung zu verteidigen. Der Kulturwissenschaft weisen sie von daher die Aufgabe zu, die unbewussten symbolischen Verwerfungen dieser wissenschaftspolitischen Wende hervorzukehren und ihre Folgen? für die Genderpolitiken zu erfragen. Aus diesem Grund versammeln sie in dem erweiterten Tagungsreader sowohl Beiträge zur Frage der Genderkonstitution im Zeichen der Biowissenschaften wie zur symbolischen Formierung der Biowissenschaften, zu «Medialisierungen» und filmischen Genealogisierungen des Geschlechts.

Unter dem Genderaspekt besonders interessant ist die hier initiierte Begegnung der US-amerika-nischen Philosophin Judith Butler mit der französischen Philosophin Monique David-Ménard. Denn letztere sieht in Butlers Unterstellung einer symbolischen Kodierung nicht nur des sozial vermittelten, sondern auch des natürlichen Geschlechts eine hegelnahe Reduktion des unverfügbaren Lebendigen. Butler führt in ihrer Antwort eine Klärung dahingehend herbei, dass das natürliche Geschlecht nicht als «produziert», sondern als «instituiert», als von den symbolischen Zuweisungen adressierte «Materialität» zu verstehen sei. Dabei gesteht sie zu, dass unserer Referenz auf den Körper ein Moment des Vergeblichen eigne, da das Leben letztlich unser Referenzbemühen «übersteigt»: «In diesem Sinn ist der Körper geformt, aber er bleibt auch als etwas außerhalb der Form bestehen und erfordert gerade dadurch den andauernden Prozess des Formens» (51).

Aufgrund dieser andauernden Formung bleibt die Frage der symbolischen Kodierung des Körpers virulent: Von daher begegnen die Gendertheoretikerinnen auch jenen zeitgenössischen Diskursen, die mit vitalistischem Elan frei nach Deleuze/ Guattari von der «Vielgeschlechtlichkeit» des Körpers und seinen vorsymbolischen Affekten schwärmen, mit Skepsis. Auch Susanne Lettow und Marie-Luise Angerer kritisieren in ihren Beiträgen solche Diskurse ob deren Vernachlässigung realpolitisch wirksamer Geschlechterzuweisungen und ihrer Tendenz, sich theoriepolitisch den Verfügbarkeitsphantasien der Biowissenschaften anzubiedern. Angerer greift zu Recht die mäandernden Diskurse der «Neolebensmenschen» wie etwa Rosi Braidottis und deren Gleichsetzung des «bloßen Lebens» mit dem weiblichen Körper an, da die Substantialisierung des Weiblichen auch in Rückgriff auf Luce Irigaray dessen kulturgeschichtliche Historizität und symbolische Differentitalität zum Verschwinden bringt.

Die Auseinandersetzung mit dem Phantasma des «just life» bildet den Schwerpunkt des von Marie Luise Angerer und Christiane König herausgegebenen Tagungsbands Gender goes life. Mit Vehemenz weisen sie auf die neue Gefährdung des Genderbewusstseins hin, dessen kritischen Erkenntniswert sie nicht nur durch die Wende zu naturwissenschaftlicher Positivität, sondern durch die damit kompatible lebensphilosophische Akklamation eines substantialisierten Vitalen untergraben sehen. Die in ihrem Buch versammelten Vorträge fungieren zum Teil als Beleg für diese doppelte Theoriewende, zum Teil stellen sie Gegenlektüren und Aufrufe zur Beibehaltung und fortgesetzten Historisierung des «doing gender» dar. Im Sinne kritischer Historisierung des Lebensbegriffs widmen sich mehrere Beiträge (von Hans-Jörg Rheinberger, Christiane König und Kerstin Palm) der Forschungslandschaft um 1900 und ihren neovitalistischen Tendenzen.

In Luciana Parisi und Manuela Rossini kommen Deleuze-Exegetinnen zu Wort, die dessen Verweis auf das unbekannte Vermögen des Körpers ausdeuten in eine befreiende Potenz zur Abkehr von der «anthropologischen Maschine», zur Affirmation posthumaner Zoologien und zur Verschaltung eines Nanobegehrens mit digitalen Maschinen. Volkmar Sigusch akzentuiert die damit begünstigte Verbrei- tung nicht nur queerer Politiken, sondern einer sich selbst modellierenden Zombie-Spezies, die Rimbauds Formel nun als «Ich ist fake» aktualisiert. In Übereinstimmung damit sieht Anja Michaelsen, Mitherausgeberin von Der Einsatz des Lebens, in gewissen Filmmelodramen die Geschlechterdifferenz durch eine körperfiliative «Verwandtschaftsordnung» ersetzt. Sabeth Buchmann verdeutlicht in ihren Beiträgen in beiden Büchern, dass die künstlerischen Avantgarden der Moderne nur unter Rückgriff auf Lebensphilosophien à la Bergson möglich wurden und die heute dem Kunstwerk zugestandene Autopoiesis eine Folge dieser Anlehnung an Elan-Vital-Konzeptionen ist.

So bedeutsam die vitalistische Entgrenzung «nach unten» für die Entfaltung der Künste und als Korrektiv gegen wissenschaftspolitische Engführungen der Vernunft ist, so prekär erscheint, wie die beiden Bücher berechtigterweise anmahnen, die begriffslose Entfesselung eines Vitalen im Hinblick auf das Überleben des Lebendigen selbst. Denn mit der Renaturalisierung des Lebens beraubt sich die Kritik selbst ihrer Differenzierungspotenz. Dabei bleibt es, wie die anschauliche Filmreflexion von Gertrud Koch in Der Einsatz des Lebens vorführt, doch unumgänglich, zwischen wissenschaftlichen Zugriffen und imaginären Lebensspielen zu unterscheiden: der medial ermöglichten Fantasie von Unsterblichkeit, die nach dem Sterben das Leben immer wieder beginnen lässt. Diese filmisch dargebotene «Welt meiner Unsterblichkeit», wie Stanley Cavell sie nennt, wird zur epistemologischen Chance – der Versuch ihrer Umsetzung im Realen dagegen zur unabschätzbaren Gefahr.

August 2009

Bevorzugte Zitationsweise

Ott, Michaela: Bei Gefahr des Lebens. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/bei-gefahr-des-lebens.

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