Ziegaus, Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien
Die Forschungspraktiken der Sozialwissenschaften wissenschaftstheoretisch zu beleuchten ist für die kulturwissenschaftliche Medienwissenschaft von großem Interesse, gerade wenn sie die Herkünfte und Traditionslinien des Medienbegriffs reflektiert. In den Experimenten, Befragungen und statistischen Auswertungen der empirischen Sozialwissenschaften entsteht schließlich nicht nur Wissen über soziale Gegebenheiten, sondern auch Wissen über Medien und ihre Nutzer.
Sebastian Ziegaus' Dissertation, die sich selbst in einem Schnittbereich zwischen Medien- und Kommunikationswissenschaft verortet und sich der „Medienvergessenheit, dem blinden Fleck der Sozialwissenschaften, widmet“ (S. 19), verspricht dem Forschungsdesiderat zu begegnen, das auf diesem Feld nach wie vor besteht: In sehr viel geringerem Ausmaß als naturwissenschaftliche sind sozialwissenschaftliche ‚Experimentalsysteme’ (Rheinberger) zum Gegenstand der Wissenschaftsforschung geworden. Doch – um es gleich vorweg zu nehmen: Die Arbeit will diese Erwartungen, die medienwissenschaftliche Leser möglicherweise an sie richten könnten, nicht unbedingt erfüllen. Als Zielpublikum der Studie werden klar die Sozialwissenschaften selbst benannt (vgl. S. 48). Ziegaus macht es sich zur Aufgabe, medien- und kommunikationswissenschaftliche Modelle für die Sozialforschung fruchtbar zu machen und auf diese Weise ihre Selbstreflexivität zu erhöhen (vgl. S. 62). Die Studie versteht sich dabei durchaus auch als Ratgeber, sie will „Anreize zur Veränderung in der Sozialforschung“ (S. 73) geben.
Wenn Ziegaus die „Medien und Verfahren“ (S. 18) beleuchtet, die in unterschiedlichen empirischen Forschungspraktiken am Werk sind, meint er nicht die Medien, die in den Sozialwissenschaften selbst beobachtet werden. Der Autor bedenkt die sozialwissenschaftliche Medienforschung nur an wenigen Stellen und attestiert ihr eine nicht ausreichend differenzierte Sichtweise: "Wenn die Kommunikationswissenschaft nun Medienwirkungen untersucht, meint der dahinter stehende Medienbegriff meistens das weit verbreitete Verständnis von Medien als Massenmedien, bewegt sich also weiterhin im Rahmen des Alltagsverständnisses, ganz gleich ob auf Seiten der untersuchten Wirkungen komplizierte theoretische Modelle entworfen und überprüft werden." (S. 213) Man könnte die Frage stellen, ob die mediale Bedingtheit ihrer Verfahren mit dem Medienverständnis der Sozialwissenschaften nicht doch in Beziehung zu setzen ist. Dass dies zu erwägen wäre, legt Ziegaus implizit nahe, wenn er eine Besonderheit der Sozialwissenschaften darin sieht, dass eine Ähnlichkeit, ein Spiegelungsverhältnis zwischen ihren Gegenständen und ihren Methoden besteht (vgl. S. 358).
Die Medien der Sozialforschung bestimmt der Autor jedoch innerhalb des theoretischen Ansatzes, der den Rahmen seiner Untersuchung bildet und mit dem kommunikationswissenschaftliche Überlegungen – auf einer Metaebene – doch wieder zum Tragen kommen: In engem Anschluss an Kommunikationsmodelle Michael Gieseckes, betrachtet er Forschungssysteme als „informationsverabeitende Systeme“ und „kommunikative Netzwerke unterschiedlicher Kommunikatoren mit unterschiedlichen Medien“ (S. 58). In Ziegaus' Verständnis kann alles Medium sein, was Informationen verarbeitet, Forschungsprozesse vernetzt oder Forschungsgegenstände in Forschungssystemen spiegelt: Computer, Interviews, Fragebögen, menschliche Sinne, Gruppendiskussionen, Metaphern, Psychotherapeuten oder das Psychodrama (vgl. ebd.).
Ziegaus verweist im Verlauf seiner Studie zwar vereinzelt auch auf konkrete Untersuchungen, hat aber insgesamt weniger Mikroanalysen von Praktiken und Verfahren, wie sie vielleicht in Anschluss an die laboratory studies denkbar wären, im Sinn, sondern zielt vielmehr auf die Sozialwissenschaften als Ganzes und beleuchtet die differenten Methoden ihrer vielfältigen Forschungsstränge. Ein Kapitel widmet sich dem „Empirismus der empirischen Sozialforschung“ (S. 81), ein weiteres der „Komplexität“ und „Strategien ihrer Bewältigung“ (S. 153). Selbst ein Kapitel, das drei „Fallstudien“ beleuchtet, beschäftigte sich nicht mit dem ‚Prozessieren’ des informationsverarbeitenden Systems in der Praxis, sondern mit weiteren theoretischen Parametern der Sozialforschung in ihren unterschiedlichen Ausprägungen: „Validität und Validierung“ (S. 235), „Sozialwissenschaftliche Daten“ (S. 261) und „Zählen und Erzählen“ (S. 290).
Ziegaus formuliert ganz klar, dass eine medienwissenschaftliche Beobachtung oder medien-wissenschaftlich akzentuierte Wissenschaftsforschung der Sozialwissenschaften nur einen Teil seines methodischen Zugriffs ausmacht. Sie bildet einen ersten Schritt, der dazu dient, den Status Quo der Sozialwissenschaften zu analysieren, bei dem die Überlegungen aber nicht stehen bleiben sollen. Im Fluchtpunkt der Arbeit steht das Ideal einer 'kommunikativen Sozialforschung' in deutlichem Anschluss an Giesecke. Die Verhandlung der unterschiedlichen epistemologischen und methodischen Ansätze ist daher von der Frage geleitet, wie gut sie den kommunikativen und medialen Grundlagen ihrer Forschungsprozesse Rechnung tragen, diese reflektieren und vor allem: aktiv bestimmen.
Ein Fragebogen, der den Interviewten die Antwortmöglichkeiten bereits vorgibt, ist diesem Ideal sehr fern, während eine psychoanalytisch inspirierte Sozialforschung, die eine Gegenübertragung vom Probanden zum Forscher mit einbezieht, ihr schon sehr nahe kommt. Die von Ziegaus für den größten Teil der Sozialwissenschaften beobachtete Abhängigkeit von ihren Medien muss seiner Argumentation nach zur „Autonomie in Form einer eigenständigen Kommunikativen Sozialforschung“ (S. 352) werden. „Medien, Methoden und Verfahren“ seien in den gegenwärtigen Ausprägungen der Sozialwissenschaften „der Forschung vorgängig, d.h. dass das Design von Forschungsprozessen auf sie zugeschnitten wird“ (ebd.). Die Sozialforschung müsse stattdessen ihre Mediennutzung reflektieren und „nach selbst entwickelten Programmen“ (S. 351) bewusst gestalten.
Trotz dieser Engführung der Arbeit, die den weiten Medienbegriff fast wieder auf einen instrumentellen Medienbegriff zu reduzieren scheint, lässt sie sich an vielen Stellen doch für nicht explizit adressierte LeserInnen öffnen und an andere Forschungsperspektiven anschließen. Ziegaus liefert ein differenziertes Bild der sozialwissenschaftlichen Forschungslinien und arbeitet vor allem eindrücklich deren Unterschiedlichkeit heraus. Beispielsweise beschreibt er nachvollziehbar die verschiedenen – in gängigem Sprachgebrauch nach quantitativen und qualitativen unterschiedenen – Daten als „Produkte kommunikativer Netzwerke“ (S. 286), die auf unterschiedliche Weise die Komplexität ihrer Gegenstände reduzieren oder spiegeln, bzw. die Zeitlichkeit von sozialen Prozessen still stellen oder zu reproduzieren versuchen.
Nicht jede(r) LeserIn wird der Ansicht folgen, dass die eine sozialwissenschaftliche Forschungslinie eher als adäquat und die andere eher als inadäquat anzusehen ist. Eine andere Möglichkeit wäre, nach unterschiedlichen Einbettungen in Forschungskulturen zu fragen. Ziegaus legt in diesem Sinne eine informative Studie vor, die nicht nur sozialwissenschaftliche LeserInnen zu weiteren Überlegungen herausfordern kann.
März 2010
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