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Rückblick nach vorn — Das Durcheinander der Videospiele 2010

1.4.2010

Geht es nach Ian Bogost, Professor an der Georgia Tech, werden die Game Studies dieses Jahr ein lang gepflegtes Thema endgültig zu den Akten legen: "Ludologie vs. Narratologie". Diese bisweilen hitzig geführte Grundsatzdebatte drehte sich um nichts weniger als die Deutungshoheit über das Wesen des Spiels. Sollten wir es im Sinne der Narratologie als eine gespielte Geschichte betrachten und als Text analysieren, oder nach Ansicht der Ludologen doch eher als Simulation auffassen und Regelwerk sowie Spielmechanik untersuchen? Viel vorwärts bewegt hat sich in den Game Studies durch diese Diskussion letztlich nicht, und grundlegende Fragen, beispielsweise nach dem Handlungsbegriff der Spieleforschung, bleiben nach wie vor unbeantwortet. Mittlerweile existieren beide Sichtweisen in gemäßigter Form friedlich nebeneinander, und so erhob sich auch kein großer Widerstand als Bogost vorschlug, diese Frage endgültig zu den Akten zu legen.

Stattdessen müsse das Fach sich seiner Ansicht nach mit dem schlicht unstrukturierbaren Durcheinander des Gegenstands auseinandersetzen: "A mess is a thing that you find where you don't want it. A mess is the cascade of broken glass on the floor when you miss the alarm clock and catch the water glass. A mess is the heap of hot, unseen dog shit on the stoop, and then on the stoop and the bootsole. A mess is inelegant, a clutter, a shamble, a terror. We recoil at it, yet there it is, and we must deal with it. Videogames are a mess. A mess we don't need to keep trying to clean up, if it were even possible to do so."

Damit fasste Bogost eloquent zusammen, was auf den Konferenzen im Bereich der Game Studies letztes Jahr ohnehin weitgehend Realität war. Künstlich zugespitzte Dichotomien und Versuche der Wiederbelebung der Grundsatzdebatte suchte man weitgehend vergebens. Nichts weniger als eine Neuausrichtung versprach daher die Konferenz der Digital Games Research Association (DiGRA) im September 2009 an der Brunel University bei London, auf eben der auch Bogost in seiner Keynote das Durcheinander der Computerspiele ausrief. "Breaking New Ground: Innovation in Games, Play, Practice and Theory", so der Titel der Tagung. Geprägt war sie allerdings weniger von grundlegenden Innovationen oder neuen Streitfragen, sondern vor allem von interessanten Einzelvorträgen. Damit spiegelte die DiGRA Conference, bedingt auch durch ihre internationale und interdisziplinäre Zusammenstellung, vor allem die Heterogenität des Feldes wieder.

Zu nennen ist beispielsweise Mikael Jakobsson, der das Onlinenetzwerk "Xbox Live" als "Achievement Machine" auffasste. Eine zentrale Rolle spielte dabei der beständige Leistungsvergleich der Spieler untereinander. Durch die vom Xbox-Live-Netzwerk bereitgestellten "Erfolge" entwickle sich zudem ein Metaspiel, dem die Spieler auch über verschiedene Spieletitel hinweg nachkommen könnten. Eine ähnliche Perspektive nahm auch Mike Molesworth in seinem Vortrag ein: "How many headshots you've done: Achievement as discursive practice in videogame play" Er identifizierte Erfolg als einen der zentralen Diskurse im Computerspiel und konzeptualisierte Spiele dementsprechend als Abfolge von "in-game achievements".

Um zu verstehen, wie sich die Spieler in Online-Rollenspielen untereinander organisieren, schlugen Harko Verhagen und Magnus Johansson den Begriff der "Norm" vor. Sie modellierten in ihrem Beitrag "Demystifying guilds: MMORPG-playing and norms" Spieler und Gruppen von Spielern als normative Systeme, mit der Möglichkeit Normen festzulegen und den Verstoß gegen sie zu sanktionieren.

Spannend aber letztlich wenig fruchtbar war der Versuch von Steve Dahlskog und Andreas Karmstrup die Einteilung von Genres in Computerspielen auf Basis von 17 Kategorien und Clusteranalysen vorzunehmen ("Mapping the game landscape: Locating genres using functional classification"). Untersucht wurden mit dieser Methode dann insgesamt 100 verschiedene Spiele. Was zunächst eine spannende Neueinteilung der Spielelandschaft versprach, blieb zum Schluss aber an der Tatsache hängen, dass man anstelle der vorgeschlagenen 17 Kategorien genauso andere Kombinationen und Anzahlen von Kategorien hätte bilden können. Der eher taxonomische Ansatz scheiterte damit letztlich an der Komplexität des Gegenstands.

Zwei kleine Schwerpunkte bildeten auf der Konferenz die Bereiche "Ethik" und "Game Archives". Zu ersteren trugen José P. Zagal mit "Ethically Notable Videogames: Moral Dilemmas and Gameplay" vor sowie Yasmin B. Kafai, William Q. Burke und Deborah A. Fields mit "What Videogame Making Can Teach Us About Access and Ethics in Participatory Culture" und Stefan Heinemann mit "Gold farming in the MMORPG (Massive Multiplayer Online Role Playing Game), World of Warcraft. An ethical perspective on a controversial growth market." Darüber hinaus fand ein Workshop zu dem Thema "Ethics in Videogames" statt.

Das Thema Spielearchivierung hatte insbesondere durch das Projekt Keeping Emulation Environments Portable (KEEP), das Teil des 7. Rahmenprogramm für EU-Forschung (RP7) ist, einen aktuellen Bezug. Hier berichteten Dan Pinchbeck, David Anderson, Janet Delve, Antonio Ciuffreda, Getaneh Otemu und Andreas Lange zu "Emulation as a strategy for the preservation of games: the KEEP project". Zudem nahmen sich James Newman und Iain Simons ("Make Videogames History: Game preservation and The National Videogame Archive") sowie Henry Lowood, Andrew Armstrong, Devin Monnens, Zach Vowell, Judd Ruggill, Ken McAllister, Rachel Donahue und Dan Pinchbeck ("Before It’s Too Late: Preserving Games across the Industry / Academia divide") der Thematik an.

Insgesamt bot sich vom 1.—4. September 2009 eine ausgewogene Mischung aus anwendungsorientierten Vorträgen und Fallstudien, die auf Verbesserungen im Game Design abzielten, Studien über die Spielerinnen und Spieler selbst sowie medientheoretischen Themen. Daneben bot die DiGRA Conference auch Platz für (noch) kleine Genres, seien es Spiele in sozialen Netzen, sogenannte "Big Games", die über mit RFID-Chips verdrahteten Gegenständen neue Spielmöglichkeiten in der physikalischen Umgebung ermöglichen, Online Collectible Card Games oder Newsgames als Pendant zu politischen Cartoons. Genauso kamen auch Praktiken im Umfeld von Spielen zur Sprache, so zum Beispiel Machinima und Fan Fiction. Mehrere Vorträge gab es jeweils auch zu Game Criticism und Gamebased Learning. Die über 100 Vorträge sind mittlerweile auch als Abstracts, Full Paper und Extended Abstracts in der DiGRA Digital Library online einzusehen.

Weitere Überlegungen zum Durcheinander der Computerspiele und wie man damit zukünftig umgehen könnte, fehlten jedoch. Dies bleibt also den Konferenzen in diesem Jahr überlassen. Und davon gibt es Zahlreiche (siehe Tabelle). Den Auftakt bildete bereits im Februar die 31. Jahreskonferenz der SW/TX PCA/ACA, der Regionalkonferenz Southwest-Texas der Popular Culture Association / American Culture Association in Albuquerque, USA. In einer angenehm unkomplizierten Atmosphäre trafen sich vor allem US-Wissenschaftler zu rund 50 Vorträgen aus verschiedenen Bereichen der kulturwissenschaftlichen Computerspielforschung. Einen möglichen Weg für zukünftige Spieleanalysen zeigte Marc Ouellette auf, in seinem Vortrag "Removing the Checks and Balances That Hinder Freedom: The Counterhegemonic and Contradictory Pleasures of GTA". Er schlug vor Spiele weniger allgemein als Medium zu untersuchen, sondern verstärkt ausführliche Einzelspielanalysen vorzunehmen, analog zum Vorgehen in den Literaturwissenschaften. Auch die Frage nach der Ethik fand in dem Beitrag "Nothing is True, Everything is Permitted: Playing with Morality in Video Games" von Brendan Van Voris hier ihre Fortsetzung. Gleichermassen war auch das Thema der Archivierung von Spieletiteln präsent, mit Beiträgen von Shino Ohno und Akinori Nakamura zu "Game Preservation Endeavours in Japan: A Case of the Ritsumeikan University Game Archive Project" sowie Devin Monnens mit "State of Game Preservation in 2010: A Survey of Game Preservation Programs in the United States and Abroad". Bereits stattgefunden haben 2010 daneben die nationale Jahreskonferenz der Popular Culture Association / American Culture Association sowie das Games Research Methods Seminar in Tampere, Finnland. Kurzfristig abgesagt wurde mangels Teilnehmerinnen und Teilnehmern dagegen die für Ende März angesetzte Women in Games Conference.

Ende April startet dann in Köln die erste diesjährige Konferenz der Game Studies in Deutschland, und zwar die dritte Ausgabe der Clash of Realities. Dort werden dann vor allem gesellschaftliche und psychologische Fragestellungen eine Rolle spielen. Dieses Jahr findet die Tagung in Kombination mit Next Level statt, einer Veranstaltung, die gleichzeitig Konferenz und Festival sein möchte und auf die Kunst im Spiel zielt. Auch die Vienna Game Conference wird fortgesetzt. Bereits zum vierten Mal widmet sie sich der "Future and Reality of Gaming", kurz F.R.O.G. Die Hamburg Media School, das Hans-Bredow-Institut für Medienforschung und die TU Ilmenau richten erstmalig einen Tag zum Thema Avatars and Humans. Representing Users in Digital Games aus, als Vorkonferenz der European Communication Conference (ECREA). Neu dazu kommt auch der Game Education Summit Europe. Er richtet sich speziell an die Organisatoren von Studiengängen im Bereich der Game Studies und des Game Designs.

Die Möglichkeiten zu Präsentation und Diskussion sind also in den Game Studies auch in 2010 zahlreich vorhanden. Begleiten werden die (kultur-)wissenschaftliche Forschung im Bereich der Computerspiele dabei mit Sicherheit weiterhin die Heterogenität des Feldes und die Komplexität des Gegenstandes. Genauso wie auch World of Warcraft. Es ist nicht nur eines der erfolgreichsten Online-Rollenspiele, sondern auch einer der beliebtesten Gegenstände in wissenschaftlichen Vorträgen. Auf der SW/TX PCA/ACA 2009 wurde schließlich sogar ein spontan ins Leben gerufener Sonderpreis für alle Vorträge vergeben, die Bezug auf World of Warcraft genommen hatten. Und auch auf der DiGRA Conference 2009 fanden sich allein acht Vorträge, die sich explizit mit dem Spiel beschäftigten. Wenn die Game Studies sich auch sonst nach wie vor im Fluss befinden, scheint zumindest dies ein stabiler Trend zu sein.

Übersicht der (kulturwissenschaftlichen) Konferenzen im Bereich der Game Studies in 2010. Die Tabelle erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, insbesondere nicht für den asiatischen Raum. Ergänzungen nimmt der Autor gerne unter ste.boehme@hbk-bs.de entgegen. Eine aktualisierte Fassung wird auf der Internetseite der Arbeitsgruppe Games der GfM bereitgestellt
Name Zeitraum Ort
Konferenzen im deutschsprachigen Bereich
Next Level 20.—21.04.2010 Köln
Clash of Realities 21.—23.04.2010 Köln
F.R.O.G. 24.—26.09.2010 Wien
Avatars and Humans. Representing Users in Digital Games (Pre-conference zur ECREA) 12.10.2010 Hamburg
Jahreskonferenz der GfM 30.09.—02.10.2010 Weimar
Internationale Konferenzen und weitere Veranstaltungen
Workshop "Medialität des strategischen Spiels" 05.—06.02.2010 Braunschweig
SW/TX PCA/ACA 10.—13.02.2010 Albuquerque, USA
PCA/ACA National Conference 31.03.—03.04.2010 St.Louis, USA
Games Research Methods Seminar 08.—09.04.2010 Tampere, Finnland
DIGITEL 12.—16.04.2010 Kaohsiung, Taiwan
DIGAREC Wissenschaftsforum der Deutschen Gamestage 29.04.2010 Berlin
Game to Learn 30.04.2010 Dundee, England
6th Games for Health Conference 25.—27.05.2010 Boston, USA
Ludotopia — Workshop on Spaces, Places and Territories in Computer Games 27.—29.05.2010 Kopenhagen, Dänemark
CGSA Conference 28.—29.05.2010 Montreal, Kanada
Under the Mask — Perspectives on the Gamer 02.06.2010 Luton, England
Games+Learning+Society 09.—11.06.2010 Madison, USA
Game Education Summit 15.—16.06.2010 Los Angeles, USA
ACS Crossroads 17.—21.06.2010 Hongkong, China
Game Education Summit Europe 22.—23.06.2010 Kopenhagen, Dänemark
Videogames Culture & the Future of Interactive Entertainment 07.07.—09.07.2010 Oxford, England
SIGGRAPH 25.—29.07.2010 Los Angeles, USA
IADIS 26.—28.07.2010 Freiburg
CGAMES 28.—31.07.2010 Louisville, USA
Jahreskonferenz der GfM 30.09.—02.10.2010 Weimar
Nordic DiGRA 16.—17.08.2010 Stockholm, Schweden
Fun and Games 15.—17.09.2010 Leuven, Belgien
Academic Mindtrek 06.—08.10.2010 Tampere, Finnland
Meaningful Play 07.—09.10.2010 Michigan, USA
ECGBL 21.—22.10.2010 Kopenhange, Dänemark
The Online Videogame: New Space of Socialization 28.—30.10.2010 Montreal, Kanada
SIGGRAPH Asia 15.—18.12.2010 Seoul, Südkorea
Vorschau 2011
Computerspiele und (politische) Bildung in der Praxis 31.03.—01.04.2011 Universität Augsburg
SW/TX PCA/ACA 20.—23.04.2011 San Antonio, USA


 April 2010

Bevorzugte Zitationsweise

Böhme, Stefan: Rückblick nach vorn — Das Durcheinander der Videospiele 2010. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinetext, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/rueckblick-nach-vorn-das-durcheinander-der-videospiele-2010.

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