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Onlinebesprechung

Serienzeit und serielle Zeitlichkeit

3.3.2011

Über den Wandel des Fernsehens in Verbindung mit neuen ästhetischen Entwicklungen der TV-Serie ist in den letzten Jahren international einiges gesagt und geschrieben worden. In seiner kürzlich in der Zeitschrift für Medienwissenschaft erschienenen Besprechung der Reading Contemporary Television-Buchreihe ging der Fernsehwissenschaftler Herbert Schwaab so weit, unter Bezugnahme auf Hegels Proklamation vom Ende der Kunst die große Zahl der dort erschienenen Titel als ein „Krisensymptom [zu] betrachten, das auf das Ende von Fernsehen hinweist“.1 Aber mag auch das Fernsehen im Zeitalter seiner digital-technischen Verfüg- und Reproduzierbarkeit eine seiner klassischen Eigenschaften, die Flüchtigkeit, verlieren, so können wir diesen Verlust vielleicht bedauern; doch so schnell gehen weder das Fernsehen noch die TV-Serie unter. Krisen sind ja ohnehin ein stets wiederkehrender Begleiter der Medienevolution. Und gerade in dieser Hinsicht macht die Krise vielleicht nicht nur etwas sichtbar, sondern kann den Blick zuweilen verstellen.

Die Lektüre der genannten Buchreihe führt vielleicht auch zu der Einsicht, dass die fernsehwissenschaftliche Serienforschung sich nicht allzu sehr auf die kulturelle Aufwertung ihres Gegenstandes fixieren sollte. Immerhin schreiben wir mittlerweile das Jahr 2011 und nicht mehr 1981. Wiederholte Hinweise auf die ästhetische Unterschätzung des Mediums und seiner seriellen Formen sind irgendwann ebenso ermüdend wie die x-te Absage an ideologie- bzw. kulturkritische Perspektiven, die ohnehin in der akademischen Auseinandersetzung kaum noch eine Rolle spielen. In Bezug auf die amerikanische Serienlandschaft gibt es jedenfalls keinen dringenden Handlungsbedarf für Nobilitierungsbemühungen. Dennoch hat Schwaab Recht mit der Feststellung, dass im Diskurs über Qualitätsfernsehserien nach wie vor eine Verleugnung des Mediums erkennbar ist. Während ein Sender wie HBO sich mit der tagline „It’s not TV - it’s HBO“ als quality brand in Szene setzt, werden analog dazu in der wissenschaftlichen Literatur zu Qualitätsfernsehserien vor allem die Referenzen zum Film oder Roman herausgestellt, statt zu fragen, inwieweit aktuelle ästhetische Entwicklungen und Neuerungen auf den Serienmarkt zunächst einmal fernsehhistorisch einzuordnen und zu reflektieren sind.

Medienübergreifende und medienspezifische Perspektiven müssen sich jedoch nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen, um produktive Erkenntnisse über die ästhetischen Veränderungen und Innovationen neuerer TV-Serien zu gewinnen. Dies beweist ein aktuell bei Fink erschienener und von Arno Meteling, Gabriele Schabacher und Isabell Otto herausgegebener Sammelband, der sich in erster Linie mit ästhetischen Fragen serieller Zeitlichkeit beschäftigt. Herbert Schwaab würde vielleicht bedauern, dass die Beitragenden sich dabei tendenziell eher den neuen und cineastisch konnotierten Qualitätsfernsehserien wie Lost, 24, Heroes oder Dexter zuwenden, die ohnehin im Zentrum der akademischen Aufmerksamkeit stehen. Doch gibt es daneben auch Beiträge zu den Gilmore Girls, Northern Exposure und den Simpsons, deren Status als Fernsehen im Unterschied zum ‚Not TV’-TV kaum zur Disposition stehen dürfte.

Eingangs stellen die HerausgeberInnen zunächst die Frage, ob das Konzept der TV-Serie als klassisches Fernsehformat aufgrund neuer bzw. erweiterter Formen ihrer Ausstrahlung und Verbreitung (Satelliten-/Kabelfernsehen, Internet, DVD) überhaupt noch haltbar ist: „Möglicherweise [...] verdankt sich die Ästhetik der Zeitlichkeit aktueller Serien zu entscheidenden Teilen den gegenüber der Fernsehausstrahlung in Hinsicht auf Zugriff, Relektüre und transmediale Vernetztheit erweiterten und veränderten Möglichkeiten dieser neuen medialen Orte.“ (S. 9) Um vor diesem Hintergrund die Neukonfiguration und den Wandel des Verhältnisses von Ästhetik, Serialität und Zeitlichkeit auszuloten, wird im ersten Kapitel „Konjunkturen der TV-Serie“ nicht nur der gegenwärtige Serienboom historisiert, sondern auch die geschichtliche Entwicklung der Serienforschung selbst zum Thema gemacht. Gabriele Schabacher eröffnet diesen thematischen Komplex mit einem makroperspektivisch orientierten Artikel, in dem sie die Durchdringung und das Zusammenspiel von serienzeitlichen, -ökonomischen und -ästhetischen Aspekten anhand amerikanischer Qualitätsfernsehserien diskutiert. Während Schabacher davon absieht, die jüngsten Entwicklungen der amerikanischen TV-Serie im Sinne eines Paradigmenwechsel zu lesen, den man wahlweise Anfang oder Mitte der 1990er Jahre ansetzen könnte, beharrt sie doch zu Recht darauf, dass die US-Serie gegenwärtig „ein[en] Experimental- und Innovationsraum“ beschreibt, der die akademische Beschäftigung herausfordert. (S. 20) Auf ähnliche Weise hatte bereits Lorenz Engell vor kurzem dafür optiert, das Medium Fernsehen im Anschluss ans Hans-Jörg Rheinberger (2001) als „Experimentalsystem“ zu begreifen und die Serie wiederum als ein Verfahren, „das nie gänzlich aufhört, eine Funktion als epistemisches Objekt einzunehmen, das immer auf dem Prüfstand steht und stets nur bis zum Beweis des Gegenteils gilt.“2

Der These von Schabacher dürfte wohl auch Kay Kirchmann nicht widersprechen, obwohl dessen Beitrag dem aktuellen Serienhype explizit kritisch begegnet. So erinnert er daran, dass bereits vor knapp 25 Jahren TV-Serien wie z.B. Moonlighting, Hill Street Blues oder - etwas später - Twin Peaks sich durch komplexe Erzählformen und innovative Gestaltungsmittel auszeichneten und dafür entsprechend gepriesen wurden, was seriengeschichtlich in Rechnung zu stellen ist, wenn man über die avancierten Ästhetiken neuerer Serien wie Lost, Six Feet Under oder 24 spricht. Vielleicht, so wäre hier anzumerken, besteht das Problem des Serienhypes auch weniger in einer Geschichtsvergessenheit, da die aktuelle Serienliteratur durchaus auf einschlägige Studien von Jane Feuer et al. und Robert J. Thompson Bezug nimmt3, sondern eher darin, dass neue theoretische Konzepte sowie zuweilen die Bereitschaft zur gründlichen Begriffsarbeit fehlen, gerade wenn man an vielverwendete Kategorien wie „Innovation“ oder „Unkonventionalität“ denkt. Kirchmann geht jedenfalls davon aus, dass die jüngere Serienhistorie sehr wohl mit Innovationen aufwarten kann; diese seien „jedoch anders gelagert und gegründet, als es auf den ersten Blick erscheint“ (S. 62), wie er am Beispiel der TV-Serie Gilmore Girls aufzeigt. Statt sich wie etwa die Serie House M.D. auf die Strategie der „reinen Anspielung“ zu verlassen, die auf andere Medien beliebig und folgenlos zugreife, positioniere Gilmore Girls Fernsehen als ein Medium, das neben den Motiven auch die Erzählstrukturen und Zeitlogiken anderer Medien inkorporiere. So entstehe „eine komplexe Schichtung medialer Formen und deren inhärenter Zeitlichkeit, eine gleichzeitige Ungleichzeitigkeit, in der sich die intradiegetische Handlungszeit und die medialen Referenzzeiten bis zur Unauflöslichkeit miteinander verweben.“ (S. 67)

Dass nicht nur Veränderungen des Fernsehdispositivs oder die materiell-technische Beschaffenheit des „Experimentalsystems“ die operative Logik der Serien und ihre ästhetischen Erscheinungsformen beeinflussen, sondern dass auch die Medien zur Erforschung von Serien ihrerseits das Wissen über Serien konturieren, darauf weist Irmela Schneider in ihrem instruktiven Beitrag hin. Es mache eben ein Unterschied, so Schneider, ob Serien in Manuskriptform, anhand von Sendeprotokollen oder auf Video bzw. DVD analysiert werden und auch die Erkenntnisse über das Serienpublikum seien (potentiell) andere, je nachdem welche Medien der Datenerhebung Verwendung finden (S. 44). Darüber hinaus interessiert sich Schneider für die Frage, inwieweit die historische Serienforschung mit einem Begriff des Mediums operiert, ohne die damit verbundenen epistemologischen Prämissen explizit zu reflektieren. Um dies zu zeigen, wendet sie sich der ersten groß angelegten Studie zu Daytime Radio Serials zu, welche die Princeton University ab Ende der 1930er Jahre im Rahmen ihres Radio Research Projects durchführte.

Ein weiterer thematischer Schwerpunkt des Bandes mit dem Titel „Temporale Formatierungen“ beschäftigt sich mit der Mikroebene von Zeitlichkeit in Serien. Während der Beitrag von Judith Lehmann anhand der Produktion Northern Exposure (Ausgerechnet Alaska) der Frage nachgeht, welche Relevanz das „initiatorische Programm“ von TV-Serien hinsichtlich der Gestaltung serieller Zeitlichkeit hat und dabei detailliert die Funktion von Titel, Vorspann, Vorspiel, Pilotfolge sowie dem (innerdiegetischen) Ursprungsmythos herausarbeitet, diskutiert Tobias Haupts mit Space Center Babylon 5 eine Serie aus dem Genrebereich der Fernseh-Science Fiction, welche – seiner Einschätzung nach – die Rückkehr zu romanhaft-epischen Erzählformen der gegenwärtigen Seriengeneration begründete und mit neue Verfahren der Erzählung und Darstellung von Zeitlichkeit aufwarten konnte.

Eine kulturvergleichend-historische Betrachtung der Formen und Funktionen des Cliffhangers, die sowohl ästhetische als auch ökonomische, produktions- wie rezeptionsorientierte Perspektiven einschließt, nehmen Tanja Weber und Christian Junklewitz in ihrem profunden Artikel vor. Die Autoren schlagen darin eine Definition vor, die den Cliffhanger als medienübergreifendes narratives Gestaltungsmittel profiliert: „Ein Cliffhanger ist eine intendierte Unterbrechung der Narration, die im weitesten Sinne Interesse am Fortgang der Handlung weckt.“ (S. 113) Cliffhanger müssen nicht seriell organisiert sein, sondern können sich auch in Einzelwerken finden, zum Beispiel beim Wechsel von Handlungssträngen im Spielfilm. Insofern markieren sie eher den Abschluss einer Erzähleinheit als dass sie am Ende einer Werkeinheit stehen, wie das bei ihren begrifflichen Vorgängern im Kino der 1910er Jahre der Fall war.

Dass ein Band, in dem es um die Ästhetik der Zeitlichkeit von TV-Serien geht, nicht umhin kommt, auch Aspekte ihrer intermedialen Verflechtungen und Verweise zu thematisieren, wird spätestens nach der Lektüre von Arno Metelings Text zu Comic Book Heroes. Superhelden zwischen Comic und Fernsehen evident. Laut Meteling greift die Fernsehserie Heroes mit der Zeitreise nicht nur ein zentrales Motiv der Superheldencomics auf, sondern erweitert diese zu einer metafiktionalen Figur, wenn in der Handlung der TV-Serie ein Comic-Heft den Figuren Erkenntnisse über ihre Zukunft vermittelt. Auf diese Weise wird das intermediale Gedächtnis des Comic Book hier zu einer Figur der Selbstreflexion.

Eine andere Figur der Selbstreflexion mit wichtigen intermedialen Implikationen ist der Protagonist der Serie Dexter. In seinem Beitrag „Miami Ice oder die ästhetische Schule des legitimen Tötens. Serienmord, Serialität und Zeitlichkeit“ zeigt Michael Cuntz zunächst auf, dass sich die Figur eines Serienmörders, auch wenn sie offensichtlich seriell handelt, nicht für jede Form der Serienerzählung eignet. Das narrative Muster und die zeitliche Dramaturgie einer Serienmördergeschichte, wie wir sie etwa aus Spielfilmen wie Se7en kennen, ist nicht auf eine Serienstruktur übertragbar, deren Plot sich über mehrere Staffeln erstreckt: Die Spannungskurve würde zu sehr gedehnt. Die Figur und ihre Geschichte muss also ganz anders entworfen werden, damit sie in Form der Serial-Erzählung, also als fortsetzungsorientierte Geschichte mit langen Handlungsbögen, funktioniert. Eine zentrale Voraussetzung hierfür besteht darin, dass Dexter als ein Sympathieträger gezeichnet und als solcher vom Zuschauer akzeptiert wird. „Wir wollen also gerade nicht, dass der Täter gestoppt wird, sondern dass er immer weiter mordet.“ (S. 181) Dieses Begehren mag vielleicht auch manchen Zuschauern insofern leichter fallen, als seine Opfer eben keine klassischen Opfer sind, sondern ihrerseits mehrfache Mörder. Damit werden im Sinne der Spannungsdramaturgie nicht nur die Taten als solche interessanter, sondern auch die Opfer, für die man sich laut Cuntz ansonsten als Zuschauer kaum oder gar nicht interessiert. Aber der Charakter Dexter ist für sich allein genommen schon interessant genug, und der Autor zeigt sehr deutlich, wie die Entwicklung der Figur nicht nur als psychoanalytische Narration, sondern auch in ihrer Darstellung als „Abfolge verschiedener Modi visueller Wahrnehmung“ (S. 187) angelegt ist und in ihrer ausgeprägten televisuality (John Thornton Caldwell), die primär über Farbigkeit zum Ausdruck kommt, an Serien wie Miami Vice oder Nip/Tuck erinnert.

Ein produktionsästhetisches Interesse an Serienformaten liegt dem Beitrag von Harun Maye zugrunde. In dessen Zentrum steht die Frage, „inwiefern Kolportageliteratur und Soap Opera populäre Erzählungen unter hochtechnischen Bedingungen sind“ und in dieser Hinsicht als „Phänomene mit einer eigenen Funktion und Poetik“ verstanden werden müssen (S. 135). Um die gegenwärtigen Praktiken und Ästhetiken populären Erzählens zu historisieren, wirft Maye einen Blick auf die Zeit um 1800. In dieser geschichtlichen Phase findet eine Transformation der literarischen Kommunikation und des Marktes statt, welche Sorgen hinsichtlich einer industriellen Literaturproduktion und ungebundenen Lektüre evoziert. Dem kritisch beäugten neuen Lesehunger begegnen große deutsche Verlage wie Weber, Vieweg und Reclam mit der industriellen Herstellung übersetzter Romane und Zeitschriftenbeiträge. Wie Maye aufzeigt, beruhen die Tätigkeiten dieser deutschen Übersetzungsfabriken ebenso auf den Prinzipien der Arbeitsteilung wie die modernen Soap-Produktionen auch. Wenn man heutzutage Fernsehkritiken von Soaps liest, wird laut Maye zudem schnell deutlich, dass sich die Diskreditierung dieses Serienformats immer noch auf die standardisierten und arbeitsteiligen Verfahren stützt und dabei die kulturkritischen Argumentationsmuster des 19. Jahrhunderts reproduziert. Neben dem interessanten historischen Vergleich zwischen Soap und der Kolportageliteratur ist Mayes Artikel aber noch aus einem anderen Grund lesenwert, da hier ein überzeugender Vorschlag unterbreitet wird, das Konzept des Populären systemtheoretisch genauer zu bestimmen als dies etwa in der Studie Nobert Bachleitners zum deutschen Feuilletonroman geschieht.4 Zwar sei es auf den ersten Blick plausibel, im Sinne der klassischen Systemtheorie den Fortsetzungs- oder Feuilletonroman nicht dem System der Kunst, sondern Massenmedien zuzuordnen, dennoch werde bei Bachleitner das Populäre einerseits auf ein „Wechselspiel zwischen Unterhaltungsfunktion und Nachrichtenwert“ reduziert und zudem der Eindruck erzeugt, es handele sich „bei dem Populären um ein exklusives Programm oder gar Subsystem der Massenmedien“ (S. 152) Demgegenüber möchte Maye das Populäre „als eine Form und die Operation der Popularisierung als eine Kulturtechnik [begreifen], die durch Mittel der Allgemeinverständlichkeit, Zugänglichkeit und Emotionalisierung eine möglichst breite Inklusion von Kommunikation in ein soziales System organisiert und bereitstellt.“ (Ebd.)

„Narrative Komplexität“ gehört wohl zu den ästhetischen Merkmalen, die am häufigsten als Ausweis von Qualitätsfernsehserien verhandelt werden. Serien gewinnen allein durch die Länge ihrer Laufzeit an Komplexität, und dies umso mehr, sofern sie sich in ihrem Fortschreiten, in irgendeiner Form, sichtbar auf frühere Stadien ihrer Genese rückbeziehen. Es ist also zunächst einmal grundsätzlich schwierig für eine Serie, nicht komplex zu sein. Tatsächlich besteht eine wesentliche Funktion von Serien darin, selbstgenerierte Komplexität(en) zu reduzieren oder erzählerisch über- und durchschaubar zu organisieren. Da TV-Serien aber zunehmend auf „rewatchability“ hin orientiert sind, also die (potentielle) Mehrfachrezeption durch ihr Publikum einrechnen, können sie wiederum unproblematischer mit Komplexitätssteigerungen operieren, die Zuschauer nachhaltig intellektuell herausfordern. Im letzten Abschnitt des Bandes werden diese „komplexen Zeiten“ eingehender beleuchtet und neue Formen der Organisation von Zeitlichkeit in Serien vorgestellt. Eine Serie, die man in dieser Hinsicht vielleicht nicht als erstes auf der Rechnung hat, sind die Simpsons.

Wie Oliver Fahle in seinem Beitrag ausführt, ist der Umstand, dass es sich um eine Cartoon-Serie handelt, für die Analyse ihrer Temporalität von zentraler Bedeutung, insofern bei Cartoons bekanntlich besondere physikalische Regeln für Körper, Raum und Zeit gelten. Die Simpsons weichen von diesem Prinzip zwar nicht grundlegend ab, nehmen aber eher eine Mittelstellung zwischen physikalischem Realismus und dessen generisch motivierter Aufhebung ein. Ohnehin für ihre zahlreichen populärkulturellen Verweise bekannt, zeichnen sich die Simpsons vor allem durch ihre Bezüge zum Medium Film aus. Zum einen lässt sich ein umfangreiches Gedächtnis für Filmplots und kinematografische Verfahren (z.B. simulierte filmische Kamerabewegungen) beobachten, zum anderen werden die durch den Film etablierten Temporalisierungsformen wie Rück- und Vorblenden oder multiperspektivisches Erzählen adaptiert. Eine Besonderheit der Simpsons besteht nun darin, dass Zeitverläufe in der Serie zwar thematisch verhandelt werden können, aber nicht darstellbar sind, da die Figuren weder altern noch sterben. Dieser ‚A-Temporalität’, wie Fahle sie nennt, steht der zeitliche Aspekt gegenüber, dass die Figuren sehr wohl über eine diegetische Vergangenheit verfügen, die zum Beispiel in Rückblenden erzählt wird. Darüber hinaus existiert mit der Integration von Gaststars noch eine außerdiegetische Zeitebene. Fahle nennt die Ausdifferenzierung der verschiedenen Zeitschichten „materielle Zeit“. Da sie aber nicht die Gegenwart der Figuren tangiert, drückt diese Heterochronie bei den Simpsons letztlich den Widerspruch zwischen der filmischen und der Cartoon-Erzählung aus.

Heterochrone Zeitlogiken sind auch in der Krankenhausserie House M.D. zu beobachten. Anders als in vielen ähnlichen Serienproduktionen, deren zentraler Schauplatz das Krankenhaus ist, geht es bei House M.D. nicht primär „um Leben oder Tod, sondern um den Reiz der richtigen Diagnose einer außergewöhnlichen Krankheit“ (S. 245), die durch ein Verbrechen ausgelöst wurde. Zuständig für diese Herausforderung ist der Leiter der diagnostischen Abteilung des fiktiven Princeton Plainsboro Teaching Hospitals, Gregory House, wobei der Protagonist wegen seiner genialen Kompetenz und Beobachtungsgabe sowie mit Blick auf seinen Drogenkonsum zwangsläufig an Sherlock Holmes erinnert. Und großer Sachverstand ist auch gefragt, denn die Seriendramaturgie sieht einen Wettlauf zwischen Diagnosezeit und Krankheitszeit vor, wobei die Ermittlung und das Verbrechen parallel verlaufen. Der Tatort des Verbrechens befindet sich im Verborgenen, im Körperinneren der Opfer und muss mit Hilfe technisch-medizinischer Bildverfahren zunächst sichtbar gemacht werden. Die Serie präsentiert verschiedene Modalitäten des Blicks in den Körper, darunter etwa das Magnetic Resonance Imaging (MRI). Da die bildgebenden Verfahren aber problembehaftet und sehr interpretationsbedürftig sind, steht die Dynamik des Krankheits- und Diagnoseverlaufs mit der Statik der bildgebenden Verfahren in einem Spannungsverhältnis. Der Wettlauf zwischen Krankheit- und Diagnosezeit verweist auch darauf, so Otto, dass sich die Faszination von Serien allgemein als eine Figur der Rechtzeitigkeit kennzeichnen lässt: „Sie passen besonders gut in eine bestimmte Zeit und ihre serielle Struktur ermöglicht es ihnen, sich optimal in diese Zeit einzupassen und diese Einpassung ständig zu re-aktualisieren“ (S. 257).

In einem zweiteiligen Aufsatz wendet sich die Gabriele Schabacher schließlich einer Serie zu, die mit Blick auf ihren experimentellen Umgang mit Zeitlichkeit kaum zu überbieten ist. Die Rede ist selbstverständlich von Lost. Schabacher zeichnet detailliert nach, wie die Erfolgsserie sowohl auf der formalen Ebene der Erzählzeit (mittels Flashbacks, Wiederholungen, Flashforwards) als auch thematisch auf der Ebene der erzählten Zeit (historische Zeitebenen, Zeitmaschinen, Zeittheorien) auf komplexe Weise mit Zeitschichten und -verfahren operiert. Dabei vertritt Schabacher die These, dass mehrere Elemente der Seriennarration sich einer klaren Zuordnung zu der story/plot-Unterscheidung verweigern und eine „Ebene der Übergängigkeit“ bilden. Es sind eben solche Übergangsphänomene wie Vorahnungen, Zeitloops oder innere Zeitreisen, die nach Einschätzung von Schabacher als Spezifik von Lost betrachtet werden müssen.

Abschließend bleibt festzustellen, dass der Großteil der Beiträge dem definierten Erkenntnisinteresse klar verpflichtet ist und damit Einsichten ermöglicht werden, wie sie andernfalls vielleicht nur im Rahmen einer monografischen Behandlung des Themas zu erwarten gewesen wären. Ein weiterer Grund für das beeindruckend kohärente Gesamtbild des Bandes besteht darin, dass die AutorInnen das Verhältnis von Serialität, Ästhetik und Zeitlichkeit aus einer dezidiert medienwissenschaftlichen Perspektive heraus untersuchen und auf diese Weise alternative Ansätze der Serienforschung, zum Beispiel die rezeptionsorientierten Studien der Cultural Studies, produktiv ergänzen.

März 2011

  • 1Herbert Schwaab, Reading Contemporary Television, das Ende der Kunst und die Krise des Fernsehens, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft I/2010, H. 2, 135-139, hier: 135.
  • 2Lorenz Engell, Fernsehen mit Unbekannten. Überlegungen zur experimentellen Television, in: Michael Grisko, Stefan Münker (Hg.), Fernsehexperimente. Stationen eines Mediums, Berlin (Kadmos) 2009, 15-45, hier: 45.
  • 3S. Jane Feuer, Paul Kerr, Tise Vahimagi (Hg.), MTM ‚Quality Television’. London (BFI) 1984; Robert J. Thompson, Television’s Second Golden Age. From Hill Street Blues to ER, New York (Syracuse University Press)1996.
  • 4Norbert Bachleitner, Kleine Geschichte des deutschen Feuilletonromans, Tübingen (Narr) 1999.

Bevorzugte Zitationsweise

Sudmann, Andreas: Serienzeit und serielle Zeitlichkeit. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/serienzeit-und-serielle-zeitlichkeit.

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