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Onlinebesprechung

Natascha Drubek-Meyer, Jurij Murašov (Hg.), Das Zeit-Bild im osteuropäischen Film nach 1945, Wien/Köln/Weimar (Böhlau) 2010

1.11.2011

Die Künste in Osteuropa können sich Fragen nach dem Politischen meist kaum entziehen. Die historisch ausgerichtete Osteuropaforschung hat darauf mit einem kulturpolitischen Kritizismus reagiert. Unbefriedigend aber bleibt es, wenn sich ihre Erklärung der Kunst ausschließlich auf die tagespolitischen Antriebe von Machtinhabern beschränkt, deren Auf und Ab beispielsweise namensgebend für eine ganze Epoche, wie die Ždanov-Ära nach dem Zweiten Weltkrieg, waren. Die Kritik gibt oft dem Verlangen der Zeitgenossen nach, sich eine vergangene Realität durch die Künste zu vergegenwärtigen und sie als subversive Gegenrealität des Alltags zu spiegeln. Und als eine mimetische Kunst kommt der Film diesem nachträglichen Wunsch wie kaum ein anderes Medium entgegen.

Der von Natascha Drubek-Meyer und Jurij Murašov herausgegebene Band Das Zeit-Bild im osteuropäischen Film nach 1945 reagiert auf diesen Befund, wenn er mit der Frage nach dem Verhältnis von politischer Geschichte und Filmgeschichte einsetzt. Unter Bezug auf Gilles Deleuze Das Zeitbild wendet sich der Band von dem genannten „Realismus in der Filmgeschichte“ ab, indem er eine andere Ästhetik von Geschichte aufruft. Das Zeitbild des Films verschafft uns, wie Deleuze meint, einen anderen Zugang zu unserer Gegenwart, indem es uns klar macht, dass wir diese nicht in jener Selbstgenügsamkeit wahrnehmen, mit der sie verfließt. Wir erfahren Zeit in mehreren Dimensionen, weil Erinnerungen von Vergangenem und die Erwartung von Zukünftigem immer mitbestimmen, was wir in der Gegenwart wahrnehmen. Erinnerte Vergangenheit und erwartete Zukunft sind „ihrer“ Gegenwart deshalb immer gleichzeitig. Die Gegenwart verfließt nicht kontinuierlich – damit wirklich Zeit vergeht, bedarf es einschneidender Ereignisse, und diese betreffen immer die ganze Zeit. Sobald etwas geschieht, bestimmen neue Erwartungen – und somit eine andere Zukunft – die Gegenwart, und vergessene Erinnerungen einer anderen Vergangenheit tauchen auf. Und schließlich erfahren wir Zeit als etwas, das uns nicht bis ins Letzte zugänglich ist, insofern die erwartete Zukunft sich niemals vollständig in der Gegenwart erfüllt, die Gegenwart selbst uns meist nicht gegenwärtig ist und die Vergangenheit sich niemals in Gänze als das verstehen lässt, was einmal Gegenwart war. Nicht zuletzt deshalb sagen wir, dass wir in der Zeit leben.

Der Band steht in einer Spannung zwischen einer solchen an den traumatischen Brüchen der Moderne bzw. den chronologischen Verwerfungen der Postmoderne geschulten Ästhetik des Zeitbildes und dem Schreiben einer traditionellen Geschichte. Die in drei Kapiteln unter den Überschriften Aufbruch, Agonie und Transformation angeordneten Studien reihen die Filme noch in eine Geschichte ein, anstatt ein Zeitbild des Films zu entwerfen. Somit wird kaum diskutiert, warum sich die Virtualität der Filmbilder über die Entstehungszeitpunkte der Filme hinweg nicht nur in unserer Rezeption aktualisiert, sondern die ganz spezifische Aktualität filmischer Bilder sich vielmehr auf die Gestalt der Geschichte selbst auswirkt, die als deleuzianische Filmzeit zu erfahren wäre. Diese Spannung durchzieht die Beiträge bis in die Einzelheiten: Filmhistorisches Arbeiten sowie medien-, sozial-, kultur-, und politikgeschichtliche Fragestellungen stehen in diametralem Kontrast zur Inanspruchnahme von Zeitbildern in den Filmen selbst. Alle Beiträge werfen somit die Frage auf, wie sich die Kategorie des Zeitbildes als Essenz der historischen Entwicklung des Films zu Einzelwerk- und Oeuvrestudien verhält. Die Entwicklung eines in zwei Gestalten – dem Bewegungs- und dem Zeitbild – geteilten telos des Films wird zwar auch bei Deleuze dezidiert an einzelnen Filmen und ihren stilistischen Besonderheiten entwickelt, aber diese bilden eben nicht je für sich ein Zeitbild, sondern Aspekte einer Zeitbildlichkeit. Zwar bestehen die Beiträge auf einer Spezifik des Films (die gerade nicht auf die sprachlich-textuellen Ebenen setzen), und man mag hier Jacques Rancière im Hinterkopf haben, der vom Film als der Kunst einer spezifischen „Geschichtlichkeit“ spricht. Die methodische Frage aber, ob der Film in seiner Spezifik zu fassen oder in einem sich selbst entfremdeten Doppelbild von Bewegung und Zeit aufzulösen ist, bleibt damit offen. Angesichts der Brüche in der osteuropäischen Geschichte dieses Jahrhunderts, die sich aus pathetischen Vorgriffen auf eine utopische Zukunft und den tragischen Rückfällen in einen anachronistischen Traditionalismus ergeben, ist das Nachdenken über die „Zeitlichkeit“ des Films im osteuropäischen Raum besonders dringlich.

In seinem einleitenden Artikel versucht Jurij Murašov die Frage nach dem immanent Politischen des Films von seinen medialen Kommunikationsbedingungen her zu überdenken. Einerseits richtet sich der ideologische Anspruch der Partei wegen der Erreichbarkeit illiterater Schichten, der kollektiven Produktionsform und seiner unerhörten Wirkungsmacht auf den Film. Andererseits erschwert, wie Murašov festhält, visuelle Kommunikation – und unterläuft Filmkunst stets bewusst – jene Eindeutigkeit der Botschaft, mit der Politik auf Verbindlichkeit zielt.
Angeregt durch die deleuzianische Vervielfältigung der zeitlichen Schichten von Geschichte werden in diesem Band verschiedene Geschichten des Kinos erzählt. Eine davon ist die Geschichte seiner Emanzipation aus politökonomischen Fesselungen auf den Flügeln einer medialen Eigenlogik, die sowohl politische als auch ökonomische Interessen subvertiert. Um dieser Geschichte ein Fundament zu geben, macht Natascha Drubek-Meyer eine Parallele auf: Während sich die physikalische Theorie der Zeit seit Einstein von der Mechanik löst, entwickelt sich die Bewegung des Films gerade aus der Mechanik heraus. Der filmische Apparat kopiert mit dem Malteserkreuz das Prinzip des Uhrwerks, um auf eine rhythmische Bewegung im projezierten Film zu stoßen und in der elegischen Dauer der Bilder eine unmechanische Zeit zu entdecken. Insbesondere an die osteuropäischen Filmkulturen richtet sich die Frage, wie sich eine solche Eigenlogik, in der sich der Film lediglich auf die Potentiale seines Mediums bezieht, gegen die politischen Ansprüche durchsetzt und diese unter dem Druck einer materialistischen Modernisierungsideologie dennoch vollzieht.

Alle Beiträge des Kapitels „Aufbruch“ greifen die Zäsur zwischen einem ersten Kino des „Bewegungsbildes“ und einem zweiten Kino des „Zeitbildes“ auf. Mit diesen beiden grundlegenden Begriffen beschreibt Deleuze zwei Typen des filmischen Bildes, dass seinen veränderlichen Charakter einmal einer ihm zugrundeliegenden Bewegung und das andere mal einer mit ihm verfließenden Zeit zuschreibt. Die von Deleuze mit dem Jahr 1945 zwischen den beiden Bildtypen markierte Zäsur wäre nun im osteuropäischen Kontext auf das Jahr 1953 zu verschieben. Sabine Hänsgen liest die Zäsur zwischen dem Bewegungs- und dem Zeitbild mit dem Paradigmenwechsel vom Stalinismus zum Tauwetter parallel. Demnach entspricht das Bewegungsbild einem narrativen Kino, solange es sich auf Aktionen und ihre Erzählbarkeit verlässt, das Zeitbild dagegen nimmt Abschied von beiden und überlässt sich einem ziellosen Schweifen von Wahrnehmungen, der Virtualität aller Erinnerung und den reinen opto-sonischen Situationen des Kinos. Die Doppelnatur des Films, der seine Bildlichkeit nur in seiner Geschichte und im Wandel seiner selbst findet, wird mit der Janusköpfigkeit des sowjetischen Kinos in seinem Pendeln zwischen Avantgarde und Stalinismus, Tauwetter und Stillstand, Kanon und Subversion, Nomenklatur und Dissidenz und nicht zuletzt Poesie und Prosa identifizierbar. In einer solchen Denklinie setzt die deleuzianische Sicht auf das Kino die Filmpoetik des russischen Formalismus mit dessen Absage an einen substanzialistischen Kunst- und Medienbegriff fort: Folgt man Hänsgen, so erhält das Kino seine Identität demnach nicht durch seine Materialien oder seinen Apparat, ja nicht einmal durch die Dispositive seiner polit-ökonomischen Einbettung, sondern aus einer Historizität seines Kunstbegriffes.

Es ist erfreulich, bei der Lektüre des Bandes von der faktizistisch historistischen Klage über die Metaphorik des „Kristallbildes“ (das den Prototyp des deleuzianischen Zeitbildes darstellt) verschont zu bleiben, mit der oft beanstandet wird, dass sich die deleuzianischen Beschreibungen konkreter Werke nicht mit filmphilologischer Materialtreue verrechnen lassen. Im selben Atemzug wird dabei meist moniert, dass die im „Zeitbild“ sichtbar werdende Geschichte des Kinos nicht der vertrauten Historiographie entspricht.

Die Herangehensweise ist im vorliegenden Band besonders dann produktiv, wenn sowohl die Poetik des Kristallbildes als auch seine Konzeption wörtlich, also als ‚poetischer Begriff’ genommen werden. So etwa wenn Peter Deutschmann die Filme aus Miloš Formans tschechischer Periode als „Kristallbilder aus Böhmen“ bezeichnet, in denen sich die deleuzianische Metapher ironisch als ein im sozialistischen Warentausch überaus geschätzter „böhmischen Kristall“ vergegenständlicht. Die Exegese des Kristallbildes anhand der Filme von Miloš Forman nimmt im Beitrag von Deutschmann nicht den konventionellen Weg einer Parallelisierung des Zeitbildes mit poetischen Filmformen bzw. medialen Basisdaten der Filmtechnik. Deutschmann erläutert anhand der „Kristall“-Metapher stattdessen Möglichkeiten der Wahrnehmung, wie sie Bergson gedacht und Forman ins Bild gesetzt hat. Aus dem Bewegungsbild als der totalen Wechselwirkung von Materie/Licht/Bild emergiert demnach erst dann ein Zeitbild, wenn ein Wahrnehmender in seiner Be- und Verarbeitung nicht mehr ausschließlich auf die sensomotorischen Schemata zurückgreift, die sein Körper ihm zur Wahrnehmung bereitstellt, sondern auch Erinnerungen einfließen lässt. Dabei bezieht sich Deutschmann auf Bergsons Modell des menschlichen Gedächtnisses. Bergson begreift das menschliche Gedächtnis als einen Kegel, dessen Schnitte Gedächtnisschichten verkörpern, die sich in der Kegelspitze als dem aktuellsten Bild, d.h. dem Bild, dass gerade wahrgenommen wird, konzentrieren. So ironisch, lapidar wie treffend liest sich denn auch Deutschmanns eigene Metaphorisierung der Zeitbilder, die in „nichts anderem als in Bewegungen im Gedächtniskegel“ (S. 79) bestehen.

Gegenüber den in der Deleuze-Rezeption verbreiteten, emphatischen Lektüren des Zeitbildes, in denen das Kino zum Grundlagenmedium moderner und nachmoderner Erfahrung avanciert, betont Jurij Murašov, der mit einem zweiten Text in diesem Band vertreten ist, die Zugehörigkeit des deleuzianischen Filmdenkens zu einem filmskeptischen Diskurs. Gegenüber dem utopischen Potential, wie es im Anti-Ödipus und den Tausend Plateaus aufscheint, jener positiven, Geschichte bildenden Kraft also, an der Deleuze zufolge sowohl die Philosophie, die Literatur als auch die Malerei teilhaben, sind die politischen Dimensionen des Zeitbildes darauf reduziert, die dem ökonomischen und technologischen System der Moderne eigene Mechanismen erlebbar zu machen. Aus diesen Mechanismen wiederum speist sich schließlich nichts anderes als die Eigenlogik des Films – der totale und totalitäre Filmautomat.
Von ganz besonderem Interesse ist der Beitrag des Filmphilosophen Oleg Aronsons, der sich bereits seit einigen Jahren mit Überlegungen zum Bild (russ. obraz) beschäftigt . Die beiden Kino-Bücher von Deleuze, die Aronson in russischer Sprache herausgegeben hat, bilden in seinen Forschungen immer wieder einen der zentralen Ausgangspunkte. Im vorliegenden Beitrag sind es vor allem Bilder des Sowjetischen, in denen er die deleuzianische Kategorie des Zeitbildes weiterdenkt. Aronson betont, dass darunter nicht etwa „sowjetische Bilder“ zu verstehen seien, in denen die masterplots, Ideologeme, das symbolische Arsenal und die Repräsentationspolitik der Sowjetunion lesbar waren, sondern das Sowjetische, insoweit es eine alltägliche, gemeinschaftliche und eben anschauliche Erfahrung bildete. Wenn er, wie auch andernorts, die Kantsche Vorstellung eines sensus communis als „kommunale Sinnlichkeit“ übersetzt und die Idee eines Gemeinsinns als Begriff für den sowjetischen Kollektivismus in Anspruch nimmt, so wendet er sich damit zugleich gegen Kant. Aronsons Einwand lautet, dass der Gemeinsinn nicht erst auf der Ebene der urteilsgeleiteten Erfahrung anzusiedeln ist, sondern bereits auf der Ebene einer geteilten Sinnlichkeit. Die Kommunalisierung des Sinnlichen macht das Kino zu einem Mechanismus des Sozialen, einer Technologie der Gemeinschaft und zum Produzenten einer Bildlichkeit, die alle seine Rezipienten teilen. Es wirkt auf den ersten Blick überraschend, dass dieses soziale Bild sich in der Konzeption Aronsons als ein Bild der Vergangenheit erweist. Dies ist kaum mit dem Vergangensein der Sowjetunion zu begründen, und selbst im sowjetischen Kosmos sucht Aronson solche Momente, in denen sich etwas abgelagert hat, das den Augenblicken selbst vorausgegangen ist. Aronsons Schlussgedanke, dass nämlich das Vergangensein des Sowjetischen nicht als das historische Ende der UdSSR oder als Absage an ihre Ideologie misszuverstehen ist, sondern „daran teilhat, die existentielle Erfahrung des zeitgenössischen Menschen zu entdecken“ (S. 140), wird nur unter Hinzuziehung einer dritten Referenz verständlich. Bereits in seinem „Zweiten Kommentar zu Gilles Deleuze“ hatte Aronson in der Erläuterung des deleuzianischen Zeitbildes an Heidegger angeknüpft. Dort hatte er ihn mit den Worten zitiert: „Es ist unschwer zu sehen, dass die ‚Alltäglichkeit’ einen spezifischen Begriff der Zeit darstellt“. Ergänzen ließe sich: ‚einen spezifischen Begriff des Verfallens’. Die einzige Kritik an der sehr sorgfältigen Übersetzung von Aronsons Beitrag aus dem Russischen betrifft diesen Punkt: In Aronsons Schlusssatz, in dem er den zeitgenössischen Menschen das Verfallen seiner alltäglichen Existenz in den Bildern des Sowjetischen erkennen lässt, hätte suščestvovanie nicht mit "Sein" (bytie) übersetzt werden sollen, sondern mit "Existenz". Denn in den Bildern des Sowjetischen zeigt sich eine vergangene Existenz und nicht das berüchtigte historische Faktum.

Der Beitrag von Holt Meyer und Bernhard Hartmann verkörpert zwei Extreme in der Auseinandersetzung zwischen konkreten Filmpoetiken und deleuzianischem Zeitbild. Während er die Sicht auf den osteuropäischen Film in der minutiösen Behandlung des Oeuvres von Krzysztof Zanussi, dessen Film Die Struktur des Kristalls (Structura krysztalu) aus dem Jahre 1969 dem deleuzschen Kristallbild seinen Namen gab, bereichert und mit der Herleitung des Kristallbildes aus der Kunsttheorie Worringers darüberhinaus eine höchst ungewöhnliche Perspektive eröffnet, fällt er methodisch hinter seinen Gegenstand zurück. Die Ankündigung, die Ausblendungen in Deleuzes’ „Kristall“ anhand von Zanussis „kryzstał“ zeigen zu wollen, stimmt skeptisch, weil man eine Verrechnung inkompatibler methodischer Ansätze (einer filmischen Philosophie und eines philosophischen Films) vermutet. Und tatsächlich läuft der Text Gefahr, in einen Widerspruch zu seinen eigenen Ausführungen zu geraten: Wenn er am Ende behaupten will, Deleuze vernachlässige eine wesentliche Schicht in Zanussis Werk, die in der Konfrontation von Propaganda und Authentizität, von Schein und Wirklichkeit bestünde, dann widerspricht dies der eingangs vertretenen These, dass die imaginären und realen sowie die virtuellen und aktuellen Bilder im „Kristall“ ununterscheidbar sind.

Methodisch birgt die Konzeptionalisierung des Bandes ein grundsätzliches Problem: Denn aus der Engführung des Zeitbildkonzeptes mit filmischen close readings ergeben sich notwendig Widersprüche. Kein „kristallines“ filmisches Verfahren lässt sich letztlich in einem Werk konkret auffinden – keine Montage auf Basis der Zeit beschreiben. Die Programmatik des Kristalls kann in einem Oeuvre nicht eingelöst werden, weil sich ein Oeuvre aus der Intentionalität von Autoren speist, die den Implikationen des Zeitbildes vielfach zuwiderläuft. So stellt sich nach Eva Binders erhellender Beschreibung von Tarkovskijs Spiegel die Frage, was für eine Zeit die „versiegelte Zeit“ Tarkovskijs denn überhaupt sein soll. Während Tarkovskij gegen alle Irrealitätsbeweise der Zeit eine reale, gar materielle, ja sogar innerhalb der Einstellung verfließende Zeit behauptet, lässt seine Poetik der Erinnerung Zweifel daran, ob diese Zeit außerhalb von Erfahrung, jenseits der Virtualität eines Gedächtnisses und damit jenseits einer Metaphysik des Films überhaupt bestehen kann. Die Orientierung an einer die Zeit überwindenden, in der Hieroglyphe eines jeden Bildes entstehenden absoluten Wahrheit ist es dann auch, an der Binder die Trennung zwischen der Filmkonzeption Tarkovskijs und der deleuzianischen markiert.

Tanja Zimmermann entfaltet anhand von Emir Kusturicas Zeit der Zigeuner eine ornamentale Zeit. Sie beschreibt die Konkurrenz eines jeweils aktuellen mit einem virtuellen Bild und schildert, wie Bewegungen sich in Spiegelbildern verdoppeln und eine Rückwärtsbewegung der Zeit initiieren. Ornamente sind geometrische Figuren, deren Elemente sich wiederholen und spiegeln. In Kusturicas Film lässt eine der Hauptfiuren einen Löffel in einer ornamentalen Zick-Zack-Bewegung magisch um einen Spiegel kreisen, der ein Abbild der Stadt zeigt. Das Leben der Figuren dreht sich in Kusturicas Filmen im Kreis – um ein Spiegelbild der Wirklichkeit. Die Zeit selbst wird von der statischen Geometrie des Ornaments annulliert. Der Film findet fast reglose Bilder des unbeweglichen Schwebens, eines starr in der Luft hängenden Hauses beispielsweise oder eines auf einem Plakat festgehaltenen Sportlers, dessen Sprungbewegung in der Waagerechte eingefroren ist. Aber inwiefern man die Zeit darin sehen und beschreiben kann, ist methodisch gänzlich offen.

Auch Birgit Beumers verwendet das Kristallbild als Beschreibungsinstrument einzelner Filmverfahren in Rustam Chamdamovs Anna Karamazoff. Insbesondere für Filme, deren Platz in der Filmgeschichte noch nicht bestimmt ist, besitzt die Orientierung an der deleuzianischen Beschreibung des Zeitbildes, das er als den Austausch zwischen dem Virtuellen und dem Aktuellen eines jeden Bildes bestimmt, eine eigene Evidenz. Vor allen Dingen berührt die Aktualität eines Virtuellen in einem filmischen Bild jenseits der erzählbaren Geschichten die Frage nach einer filmischen Fiktion. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Beumers dieser Frage anhand von filmischen Spiegelbildern, jenen Bildern des Films im Film, in denen die Bilder von Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Realität bar fester Grenzen ohne Unterlass ineinander übergehen.

Der Band weckt vielfach das Interesse an Fragen einer Methodik der Fächer. Aus filmwissenschaftlicher Sicht ist die Frage nach der Reichweite des deleuzianischen Kinoverständnisses, im Hinausgehen über das von Deleuze verwendete Material und die Frage der Übertragbarkeit auf andere Filmkulturen und Filmgeschichten beachtenswert. Aus slawistischer Sicht wäre besonders eine aus der Tradition des Faches stammende Orientierung an Studien zur Poetik und einer immer wieder zu beweisenden Selbstbehauptung des Eigenwertes der Künste angesichts ihrer politischen Überformung zu nennen. Ausblickend eröffnet sich die Frage, ob in einem filmischen Zeitbild die Filmverfahren noch in die Raster einer Poetik passen oder die Filmerfahrung und das Filmdenken noch über die Orientierung einer jeden Poetik am Machen und an der Materialität dieses Machens gefasst werden können. Vielleicht sind die Zeitbilder flüchtiger und immaterieller, und vielleicht steht die Kritik einer slawistischen Poetik des Films noch aus.

November 2011

Bevorzugte Zitationsweise

Hennig, Anke: Natascha Drubek-Meyer, Jurij Murašov (Hg.), Das Zeit-Bild im osteuropäischen Film nach 1945, Wien/Köln/Weimar (Böhlau) 2010. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/natascha-drubek-meyer-jurij-murasov-hg-das-zeit-bild-im-osteuropaeischen-film-nach-1945.

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