telehor – internationale Zeitschrift für visuelle Kultur
Typokunst: Texte der ästhetischen Avantgarde sind gelegentlich nicht einfach begriffliche Diskurse, die leichthin von einer Form ihrer Publikation in eine andere gebracht werden können, sondern sinnlich-typografische Kunstwerke. Das gilt insbesondere für das Werk des Universalkünstlers und Konstruktivisten Lázló Moholy-Nagy, dessen Buchgestaltung und Typografie selbst argumentum seines Modernismus war. Umso verdienstvoller ist also die Publikation des ersten und einzigen Bandes der legendären Avantgardezeitschrift Telehor – internationale Zeitschrift für visuelle Kultur des tschechischen Künstlers František Kalivoda aus dem Jahr 1936, der sich in Bild und Text ausschließlich mit Moholy-Nagy beschäftigt.
Der ungarische ‹Lichtkünstler› – er selbst nannte sich ‹Lichtner› ‒ hatte zu dieser Zeit schon länger das Bauhaus verlassen und pendelte zwischen verschiedenen europäischen Metropolen bis er 1937 endgültig sein Exil in den USA fand. Der Band spiegelt in Form und Inhalt jedoch noch jenen emphatischen und radikalen Konstruktivisten der zwanziger Jahre, der den traditionellen Kunstbegriff zugunsten einer neuen Ästhetik des Industrialismus aufgab. Er brach aus der klassischen akademischen Überlieferung aus in die Felder einer neuen Einheit von Technik und Gestaltung, einer vollkommenen Neuorientierung an den Materialien, Reproduktionstechniken und Medien der industriellen Kultur wie dem Plastik, dem Telefon oder den neuen Medien Fotografie und Film. Die von ihm abgedruckten und von Siegfried Gideon eingeleiteten Aufsätze, die er für diese Publikation als ‚Work in Progress‘ vielfach überarbeitete, stehen allerdings m Kontrast zu dem doch starken Anteil klassischer Ölmalerei, das den ganz im Stil der ‹Neuen Typografie› gehaltenen Bildteil prägt. Geradezu entschuldigend führt Moholy diesen Umstand gegenüber seinem Weggefährten Kalivoda auf die Misslichkeiten der vor allem ökonomischen Produktionsbedingungen zurück, allein hier könnten sich schon Anzeichen jener Wende vom produktivistisch-revolutionären Technizismus der frühen Jahre hin zu der späteren im großen Werk Vision in Motion von 1947 gipfelnden Versöhnungsästhetik von Technik und Anthropologie ankündigen.
Nimmt man das Prozesshafte der Avantgarde ernst, so können denn ihre Texte kaum als normative Verbindlichkeiten verstanden werden, wie es dem bis zur Unkenntlichkeit eines abstrakten Akademismus entstellten Experimentallabor Bauhaus widerfahren ist. Gerade die Präsentation Telehors als typografisches ‹Gesamtkunstwerk› sensibilisiert aber für jenen Chock der Moderne, dessen Stürme Künstler wie Moholy vorantrieben. Schon äußerlich betont das Reprint durch seine seinerzeit so moderne Spiralbindung das Ephemere der Schrift. Das Verdienstvolle an diesen vom Medienwissenschaftler Klemens Gruber (Universität Wien) und dem Kunsthistoriker Oliver A. I. Botar (Universität Winnipeg) herausgegebenen und von einem informativen Kommentarband begleiteten Reprints, ist, dass die Einheit von Text, Bild und Typografie unter den Bedingungen des Buchdrucks der dreißiger Jahre edierten Bandes den Leseakt selbst als künstlerische Epistemologie sinnlich erfahrbar macht. Und das heißt mit aller Amivalenz: Es sperrt sich die modernistische Schriftgestaltung, die konsequente Kleinschreibung, der extrem breite Satzspiegel der flüssigen Lektüre, wie er gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die Materialität des Textes, also des Werks lenkt und so eine genuin moderne ästhetische Kunstpraxis einführt. Und ähnlich ist es mit der Mehrsprachigkeit. Der tschechische mit den Bildern, Fotografien und Filmstills Moholys versehene Kerntext wird begleitet von einer englischen, französischen und deutschen Fassung. Die Vielsprachigkeit erscheint wie eine Verheißung auf eine internationalistische Zukunft, eine allerdings, die im Zeitalter einer pragmatischen Dominanz des Englischen wie das Versprechen auf eine nicht verwirklichte, wenn nicht gescheiterte Moderne erscheint. Ähnlich der auch technisch verstandene Titel Telehor, ein aus dem Altgriechischen abgeleitetes Kunstwort für ‹fern-sehen›, also einer ästhetischen Praxis, die im Alltag heutiger ‹Durchschnittsmenschen› als kulturelle Universalie doch weit weg ist von den Utopien der klassischen Avantgarde, die von dieser neuen Kommunikationstechnik ein neues Reich ästhetischer Freiheit erwarteten. Die Melancholie des heutigen Lesers hierüber flackert noch in den historischen Reklamen am Schluss des Bandes auf, auf deren Wiedergabe die Herausgeber zu recht nicht verzichten wollten.
November 2013
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