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Web-Extra

«Kairo. Offene Stadt. Neue Bilder einer andauernden Revolution»

28.1.2014

This text in English language.

«Die Ausstellung, an deren Konzeption ägyptische KünstlerInnen, FotografInnen, AktivistInnen und KuratorInnen beteiligt sind, zeigt Aufnahmen von ausländischen und ägyptischen Agenturfotografen, den klassischen Protagonisten der Berichterstattung, aber auch eine Twitterwand, Videoporträts von Augenzeugen, Mitschnitte und Bilder der Aktivisten und ‹Bürgerjournalisten›, wie sie auf Medienportalen wie Flickr veröffentlicht werden, Dokumente, die von KünstlerInnen gesammelt wurden – geschaffen, um Meinungen zu äußern, den Lauf der Dinge zu beeinflussen, Bilder für die Erinnerung zu schaffen, der Opfer zu gedenken und Zeugnis abzulegen. Die Allgegenwart der digitalen Beobachtung, der Livestream der Revolution, die neue Verbreitung und die alternative Berichterstattung über Kommunikationsplattformen und soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter stellen die eine Seite der Ausstellung dar. Die andere beschäftigt sich mit dem Kreislauf dieser Bilder, ihrer Präsenz im Stadtraum, ihrer Rolle auf Transparenten, Zeitungscovern, Graffitis, etc.», so ein Ankündigungstext zur Ausstellung
Die ZfM sprach im Januar 2014 mit Florian Ebner, einem der beiden AusstellungskuratorInnen und Leiter der Fotografischen Sammlung des Museum Folkwang, Essen, außerdem Kurator des deutschen Pavillons auf der Kunstbiennale Venedig 2015.1

Jonathan Rashad, Protestmarsch zum Verteidigungsministerium und Sit-in, 28.4.12

Kathrin Peters: Vielleicht erzählst Du zunächst, wie ihr bei der Recherche vorgegangen seid – wie geht man mit der auch im Katalog beschriebenen «naiven Empathie» um; eine Formulierung, die die Begeisterung für diese ‹anderen› und auf besondere Weise vernetzten Bilder sehr anschaulich macht und sich aber auch fragt: Wie kann man zu dieser Unmenge von Bildern Zugang finden?

Florian Ebner Wir sind direkt an Kuratoren in Kairo herangetreten und hatten in Edgar Blume, einem jungen Arabisten aus dem Goethe-Institut, einen Ansprechpartner, der uns ebenso wie der Leiter der Abteilung Kulturprogramme, Günther Hasenkamp, zu Kontakten verholfen hat. Dank dem ägyptisch-deutschen Blogger Philip Rizk hatten wir das Glück, sehr schnell in Kontakt mit der revolutionären Szene zu kommen, und aus all diesen Kontakten hat sich dann das weitere Vorgehen entwickelt. Ich selbst war sechs Mal in Kairo, die Ko-Kuratorin Constanze Wicke hat sogar für zwei Monate dort gelebt, die Kontakte aufrecht erhalten und ausgebaut. Wir haben das Ausstellungsprojekt initiiert und geleitet, aber die Sektionen wurden sämtlich von Ägyptern und Ägypterinnen kuratiert. Unsere Rolle war schließlich die von editors.

Ulrike Bergermann: Ist man euch mit Skepsis begegnet?

F.E. Am Anfang gab es sehr große Vorbehalte, auch von den Kuratoren der Townhouse Gallery, die damit konfrontiert waren, dass damals alle Welt die neuen hotspots der arabischen Kunstszene von ihnen vermittelt haben wollte. Aber wir haben immer versucht, deutlich zu machen, dass es natürlich nicht unsere Geschichte ist, aber dass wir das Geschehen und die daraus entstehenden Bilder einfach sehr beeindruckend finden, und dass die Ausstellung die Chance bieten soll, zwei Geschichten zu erzählen: Einerseits die der Akteure und anderseits die der Bilder. Und das sollte in Zusammenarbeit geschehen.

K.P. Was genau war und ist es, das euch an den Bildern interessiert – was meint die Formulierung «neue Bilder»?

F.E. Es ist vor allem die Frage nach den neuen digitalen Kanälen, den neuen Orten der Bilder: Facebook, Twitter, Flickr. Schon beim ersten Besuch gab es den Einwand, dass wir uns mit dem Teil der Revolution identifizieren, der uns am nächsten ist, also der Internet-Generation von jungen Ägyptern, die dazu oftmals einen westlichen Elternteil haben. Das sei aber nur ein kleiner Teil dieser Revolution. Dieser Einwand hat sehr nachgewirkt. Die «neuen Bilder» sind einerseits immer die neuesten, die jüngsten Bilder, aber andererseits auch «neuartige» Bilder. Wichtig ist, dass wir diese neue digitale Welt nicht von der alten trennen können, gerade in Ägypten. Beides gehört zusammen, die Macht der Straße und die Macht des Netzes, die Bilder wandern in die Stadt, aber auch wieder zurück.

K.P. Das «Neue» betrifft also die Materialität und auch die Zirkulationsmöglichkeiten von Bildern?

Leuchtreklame von Mobilnil am Internationalen Flughafen Kairo, Dezember 2011

F.E. Das war die zentrale Frage: Welche Rolle spielen diese Bilder bei der Revolution, wer sieht welche Bilder? Wenn man in Kairo am Flughafen ankommt, sieht man eine riesige Leuchtreklame, die die wogenden Massen am Tahrir-Platz zeigt und mit der ein Mobilfunkunternehmen Werbung macht. Die Bandbreite der Verwendung der Bilder ist ungeheuerlich. Wenn wir erzählt haben, was wir machen, haben junge Leute ihr Handy gezückt und Bilder gezeigt, die sie, wenn sie Internetzugang haben, auch auf Facebook oder Twitter veröffentlichen – die Fotos sind von Anfang an Teil eines partizipativen, kommunikativen Kontextes. Dieser Aspekt sollte auch in der Ausstellung eine Rolle spielen, und wir haben den Versuch gemacht, die ganze Bandbreite – vom Magnum-Fotografen bis hin bis zu solchen Momenten, in denen man sieht, welche Bedeutung diese Aufnahmegeräte für die Menschen auf der Straße haben – zu beleuchten. Eine Künstlerinitiative, die sich «ThawraMedia», «Revolutionsmedien», nennt, hat damals schon begonnen, sich mit all den Menschen zu beschäftigen, die da neben den professionellen Fotografen fotografieren, und Daten gesammelt, die nun als Archiv im Netz stehen.2

Myriam Abdelaziz, aus der Serie Cell Phone Stories, 2012

K.P. Wie genau funktioniert ThawraMedia?

Die drei Protagonisten – ein Fotograf, ein Blogger und ein Filmemacher – haben sich entschlossen, ein Zelt aufzuschlagen, an dem die Aufforderung stand: «Bringt uns Eure Bilder.» Diese wurden dann auf Laptops und Festplatten gespeichert und weisen eine bestimmte ‹Handyästhetik› der Unschärfen, Verwackelungen usw. auf. Die Daten der Fotografen wurden anonymisiert, da ihnen ihre Bilder natürlich nicht zum Verhängnis werden sollten. Es zeichnen sich dann sehr deutlich bestimmte Tage ab, wie z.B. der 25. Januar 2011, an dem die ersten Großdemonstrationen in verschiedenen Städten stattfanden. Hier stellt sich auch die Frage: Wie viele Bilder bleiben am Ende von diesem 25. Januar übrig? Es gibt die journalistischen und einige andere, aber viele verschwinden. Die Idee war, eine Art nationales Gegenarchiv zu erstellen.

K.P. Dann gab es ja noch eine andere Initiative, Mosireen, die auf dem Land Workshops veranstaltet?

Genau, und zwar zum Thema «Revolutionary Filmmaking», eine Art neues Genre des Dokumentationsvideos, für das sie den Begriff «video testimony» geprägt haben. In Cliplänge, vier bis fünf Minuten lang, erzählen Menschen – talking heads –, was sie gesehen haben, und dagegen werden Aufnahmen geschnitten, die zum Beispiel zeigen, was im offiziellen Fernsehen lief. Es geht darum, dass die Berichte von grausamen Vorfällen nicht von irgendwelchen agents provocateurs als Gerüchte in die Welt gesetzt werden, sondern dass Menschen wie du und ich diese erlebt haben. Wie etwa den Vorfall um den jungen Mann, der tot auf der Straße lag und von Soldaten in den Müll geworfen wurde – gleich mehrere Ägypter haben davon erzählt, dass sie das gesehen haben und dass es sie so empört hat, dass sie wieder auf die Straße zurückgegangen sind. Jasmina Metwaly, die zu dem Mosireen-Kollektiv gehört, ist dieser Geschichte nachgegangen, hat die Eltern von Toussi besucht sowie Freunde von ihm. In den entstandenen, einfachen Aufnahmen erzählen nun die Mutter, die Freundin und andere Menschen vom Geschehen, und dazwischen sieht man Aufnahmen aus dem Leichenschauhaus. Mosireen betreibt auch einen YouTube-Kanal, und im Dezember 2011 gehörte dieser Kanal laut dem Kollektiv zu den non-profit-YouTube-Kanälen in der arabischen Welt, die am häufigsten angeschaut wurden – er hatte also wirklich Einfluss.

U.B. Wie genau hat Euer editing funktioniert, von der Bildauswahl bis zur räumlichen Inszenierung?

ThawraMedia, Ausstellungsansicht Museum Folkwang, Essen, 2012. Foto: Manuel Reinartz

Die Frage war, wie man Bilder transportieren soll, die zum einen ohnehin zirkulieren, die zum anderen in einem Kontext entstanden sind, in dem sie eine ganz konkrete politische Funktion haben – in ein deutsches Ausstellungshaus. Was bedeutet das, was verlieren die Bilder dadurch, was gewinnen sie? Wir haben bei der Recherche viele Künstler getroffen, deren Bilder gerade nach London an die großen Galerien verkauft werden. Wir wollten dagegen die Bilder in einer Materialität zeigen, die relativ nahe an dem ist, wie sie ursprünglich entstanden sind, um auch die unterschiedlichen «Aggregatzustände» dieser Bilder medial mit zu thematisieren. Konkret hieß das zum Beispiel Handy- und Amateurbilder, die oftmals einen sehr flüchtigen Charakter haben, die man zwar online auf ThawraMedia abrufen kann, aber auf die niemand mehr stößt, mit Mini-Beamern zu zeigen. Die Bildauswahl haben die Künstler selber gemacht. Viele konnten dann beim Installieren der Arbeiten nicht vor Ort sein, hier wurde möglichst viel abgesprochen, im gegenseitigen Vertrauen. Die Künstlerin Heba Farid wiederum wusste gleich, wie sie die von ihr ausgesuchten fotojournalistischen Abzüge der 1960er bis 1980er Jahre zeigen wollte. Mit dem Sammler der Aufnahmen wurde abgesprochen, dass wir die Baryt-Bilder in Hüllen zeigen durften, die man in die Hand nehmen und umdrehen konnte.

K.P. Wie war es bei den Blogs, die in der Ausstellung zu sehen sind?

Hier war der Input von unserer Seite wesentlich stärker als bei anderen Ausstellungsteilen. Wir haben die Bilder von Jonathan Rashad auf Flickr gefunden – dort wurde ein Ereignis in 40 Bildern gezeigt, was diesem eine ganz andere Nachhaltigkeit verleiht, als wenn es in nur einem einzigen Bild, das von einer Nachrichtenredaktion ausgewählt wurde, präsentiert wird. Ein anderes Flickr-Album heißt «Masks of Tahrir», mit einer großen Menge extrem spannender Fotografien, und wir haben vorgeschlagen, diese Vielzahl an Bildern auf einer großen Tapete zu zeigen. Zunächst hatte Mosa’ab Elshamy, der Fotograf dieser Serie, an eher großformatige Abzüge in Rahmen gedacht, aber dann hat er unsere Idee angenommen und uns hochaufgelöste Dateien geschickt, denn die Auflösung der Flickr-Bilder hätte nicht ausgereicht.

Mosa’ab Elshamy, Masks of Tahrir, Ausstellungsansicht Museum Folkwang, Essen, 2012, Foto: Manuel Reinartz

K.P. Wenn man sich die Flickr-Seite von Jonathan Rashad oder Mosa’ab Elshamy anschaut, findet man dort sehr verschiedene «Favoriten» – Fotografien von Schauspielerinnen, Landschaften … Die Bilder von den Aufständen fallen hier also in ganz andere Kontexte, es ist eben nicht jeden Tag Revolution und die Leute haben noch andere ästhetische Interessen.

Wir hatten eine Kategorie – die aber leider nicht mehr in den Katalog gekommen ist –, in der Mosa’ab Elshamy seine Lieblingsbilder vorgestellt hat; das waren zum Teil ganz andere als die von uns ausgesuchten. Die von ihm ausgewählten Motive waren viel heroischer, imposanter. Es sind natürlich sehr junge Menschen, 2011 waren sie gerade mal 20, 21 Jahre alt; Jonathan Rashad war noch Student und ist heute sehr viel professioneller. Mich hat fasziniert, dass Leute so einfach mit ihrer Kamera an die Dinge herangehen und daraus dieses ganze Material entsteht. Für einen Kurator ist es, als ob man ständig Kontaktbögen durchsieht, aber auf diesen gibt es eine gewisse Beiläufigkeit in der Produktion der Bilder und auch einen gewissen Reichtum, der sich von der klassischen Zeugenschaft des Journalismus abgrenzt, weil er nicht so überdeterminiert ist. Der Journalismus versucht, alles in ein Bild zu packen, er reglementiert, was gesendet werden darf. Hier kommt dagegen in der Simultaneität so etwas wie der «Realitätseffekt» von Barthes durch, es ist nichts herausgefiltert.

U.B. Traditionellerweise würde sich für einen Zeugenschafts-Charakter ein fotorealistischer Eindruck mit dem Authentizitätseffekt der klassischen analogen Fotografie verbinden – was durch Verwackelungsästhetik auch im Digitalen weitergeführt wird. Aber eigentlich ist das, was die Bilder hier ‹autorisiert›, zu Zeugen macht, doch eben weniger «Barthes» und diese klassischen Kriterien als vielmehr der interne Verweischarakter der Bilder, ihr Wandern zwischen Plattformen, vom Handy in Videos, vom Fernsehbildschirm in Fotografien, vieles davon auf Plakate und in Graffiti … In der Ausstellung sind die Herkunftswege der Bilder sehr genau dokumentiert, die Dateinamen und Webseiten mit Daten versehen usw., sodass sie sich gegenseitig plausibilisieren. Das Wandern der Motive zwischen den Medienplattformen und dass man ihre Wege nachvollziehen kann sowie von wem, aus wessen Perspektive sie gemacht sind, dieser Plausibilitätseffekt ist stark an den jeweiligen Kontext gebunden. Wenn es nicht mehr der «entscheidende Moment» des Magnum-Fotografen ist, um den es geht, oder einzelne «punctums» nach Barthes, sondern eher um «Kaskaden von Inskriptionen» à la Latour, wie bringt man so etwas in eine Ausstellung? Wie stellt man so etwas, gerade als editor, in der Verbindung von Kuratorenschaften, her?

Die Kuratoren haben ihre Kapitel, ihre Vorschläge gemacht, und dann waren wir als editors diejenigen, die darauf geachtet haben, ob Motive mehrfach oder später wieder auftauchen,z.B. als Graffiti, als Inschriften, als Sticker, auf Transparenten. Diese Dinge haben wir dann ausgewählt und vorgeschlagen, genau sie zu zeigen. Ihre Ketten sichtbar zu machen, war wesentlich unsere Aufgabe. Wie Bildern wandern und dabei eben nicht nur Ereignisse abbilden, sondern auch neue Ereignisse auslösen.

Ein Video bringt das auf den Punkt: Der junge Straßen-Händler Mohammed schildert, warum er auf die Straße gegangen ist – nämlich weil er verschiedene Szenen gesehen hat, u.a. die Szene von dem toten Demonstranten, aber auch andere Szenen von Misshandlungen, wie die berühmte «Woman in the Blue Bra», eine junge Frau, die von Polizisten so stark getreten wurde, dass sie verletzt und entblößt auf der Straße lag. Während das Video The Politics of Bread diese Szenen vorführt, erzählt es gleichzeitig aber auch eine andere Geschichte von Internetbildern: Ein junger Mann, Mohammed Mounir, wurde verhaftet und beim Verhör so geschlagen, dass er bewusstlos wurde. Ein Polizeibeamter filmte mit seinem Handy, wie man ihm während des Verhörs Geld aus der Tasche zog, und stellte diese Aufnahmen wiederum selbst ins Internet, um den jungen Mann als bezahlten Agenten des Staates zu denunzieren. Die unterschiedlichen Valenzen und Qualitäten des Internets bringt Philip Rizk in diesem einen Video zusammen.
Solche Ketten von Bildern, Bilder, die Aktionen auslösen, werden in diesen Dokumenten sehr gut sichtbar. Immer wieder taucht die «Woman in the Blue Bra» auf, als Graffiti oder auf Demonstrationen, wo Menschen ihr Bild hochhalten – es ist das Motiv, das sich am deutlichsten durchzieht. Was die Ausstellung wie auch das Katalogbuch ausmacht, ist eine solche Art komparatistisches Nebeneinander.

Woman in the Blue Bra, Dokumente zusammengestellt von Rowan El Shimi (unter Verwendung von Bildern von Aly Hazza’a, El Teneen, Montage mit Screenshot von CNN-Report, Carlos Latuff, Rowan El Shimi).

K.P. So verschränken sich dann digital und analog, Online- und Offline-Präsentation – ein Bild wird zum Graffiti im Stadtraum, dort abfotografiert und wieder ins Netz gestellt oder in Zeitungen publiziert.

Ein ähnliches Beispiel ist die «Straße der Märtyrer», die Mohamed-Mahmoud-Straße: Im November 2011 sind viele Demonstranten in dieser Straße gestorben, und auch sie tauchen an vielen Orten als Graffiti auf. Gleichzeitig ist es für viele junge Ägypter ein Ort, an dem sie posieren – und dann wieder davon Bilder ins Netz stellen. Wenn man das Buch aufmerksam anschaut, dann ist diese Verschränkung von Straße, Internet, digitaler Bildkultur und Facebook-Seiten etwas ganz Wichtiges. Für uns war es sehr schwierig, in die ägyptische Facebook-Kultur hineinzukommen, weil wir die arabischen Seiten nicht lesen konnten, aber auch hier hatten wir eine Gewährsfrau, Lilian Wagdy. Zu einer Aktion von ihr gibt es auch ein Kapitel im Buch: Im Nachgang zum 28. Januar 2011, dem blutigsten Tag der Aufstände, hatte sie einen Aufruf auf ihrer Facebook-Seite gestartet und darum gebeten, ihr Bilder von diesem Tag zu senden. Grund dafür war, dass sich auch in Ägypten die Aufmerksamkeit vor allem auf Kairo konzentriert hat und andere Städte im Nil-Delta, z.B. Tantra, Alexandria, Port Said, in denen auch Menschen gestorben sind, keine Beachtung fanden. In der aus dem Aufruf resultierenden Sammlung tauchen erneut all die bereits erwähnten Ästhetiken auf: Vom unscharfen Handy-Bild bis hin zum journalistischen Foto mit einer guten Kamera.

U.B. Wird so die klassische Form von Zeugenschaft, die noch auf einer relativ direkten Indexikalität des Fotografischen beruht, abgelöst und nur noch über die Verschränkung von Plattformen hergestellt? Damit hätte man nicht mehr den Autoren des Bilds als Urheber, sondern eine unklare Autorschaft – kann man diese nun beim Kurator oder in einem Konzept verorten?

Je länger wir an dieser Ausstellung gearbeitet haben, desto klarer ist für uns geworden, dass man gar nicht mehr in binären Kategorien denken kann. Wir haben versucht, unser Vorgehen stärker in einem Nebeneinander zu definieren und soweit es geht die Bilder mit den Stimmen, die dazugehören, zu präsentieren – «Pluralität der Stimmen» war eine der Ausstellungskategorien. Es gibt auf der einen Seite all das, was wir versucht haben mit den Flickr-Alben, mit den Reaktionen darauf, den Kommentaren, den Augenzeugen-Videos auf den Internetplattformen zu zeigen. Aber es gibt auch so etwas wie z.B. das Autorenkonzept des französischen Fotografen Denis Dailleux, der schon lange in Kairo lebt und in die einzelnen Stadtviertel gefahren ist, um die Angehörigen von Verstorbenen zu fotografieren. Das ist ganz klar die Haltung eines Fotografen, der mit der analogen Mittelformatkamera unterwegs ist und als Ergebnis ein Buchprojekt im Kopf hat. Es gibt also dieses Nebeneinander von Zeugenschaften und unterschiedlichen Qualitäten von testimonies. Wir haben diese Ausstellung als FotohistorikerInnen gemacht, weniger als MedienwissenschaftlerInnen, die über Intermedialität und Internet nachgedacht hätten. Was uns stärker geprägt hat, war, die Bilder selbst und deren Nebeneinander zu zeigen.

Denis Deilleux, Memories of a Revolution, 2012, Ausstellungsansicht Museum Folkwang, Essen, 2012. Foto: Manuel Reinartz

K.P. Der Unterschied, den ihr mit Blick auf die Bilder von Profi- und Amateurfotografen beschrieben habt, wird in der Ausstellung deutlich; gleichzeitig handelt es sich so oder so um journalistische Bilder, die bei anderen Gelegenheiten auf ähnliche Art und Weise hätten gemacht werden können – weil sie für die Information vor Ort wichtig sind.

Ivor Prickett, aus der Serie Days of Anger, 2011, Copyright: Ivor Prickett

Jonathan Rashad, aus dem Flickr-Album Egypt Clashes, Mai 2012

F.E. Das ist genau das, was wir zu zeigen versucht haben: Dass alles, was die Bilder vor Ort liefern, präzise auf den Tag gerichtete Information ist, die z.B. von gleich achtzehn Fotografen der unabhängigen Tageszeitung El Shorouk produziert wird. So etwas gibt es in unseren Medien nicht mehr, die vielleicht ein oder zwei Fotografen beschäftigen. Dazu kommt, dass es für die ägyptischen Bildschaffenden eine Frage der Haltung, des Bekenntnisses ist, in der sie sagen: Ich habe keine Distanz, ich bin Teil der Bewegung.

Bilder der Fotoagentur El Shorouk, Ausstellungsansicht Museum Folkwang, Essen, 2012. Foto: Manuel Reinartz

K.P. Handelt es sich dann um ein anderes Verständnis von Journalismus, das nicht nach einer gestalterischen Logik des «entscheidenden Moments« oder des Word Press Photo Awards funktioniert, sondern die Bilder durch ihre Rahmung, ihre Zirkulation bestimmt – auch die gedruckten?

F.E. Die Bilderproduzenten hier sind auf jeden Fall sehr junge Leute, die nicht (Foto-)Journalismus studiert haben. Dennoch haben sie große Fotografen als Vorbilder. Dementsprechend haben wir das Ganze gezeigt – mit Magneten an der Wand und nicht im Passepartout mit Rahmen. Es sind keine Bilder, die sich im Sinne von Markenfotografie als groß abgezogene Historienbilder eignen. Was sie dennoch versuchen ist auch das, was das klassische fotojournalistische Bild will: Die Geschehnisse zu verdichten und in einem Bild zu transportieren. Auch wenn nicht  jedes dieser Bilder ein formal stringentes Bild ist, so haben sie eine eigene Qualität und sind oft viel berührender und spannender als Aufnahmen westlicher Bildjournalisten, die alles ihrem ästhetischen Konzept unterordnen.

U.B. War die Darstellung von Gewalt ein Problem? Bereiche der Ausstellung waren erst ab 18 Jahren zugänglich oder es wurden außen an den Video-Kabinen Stills gezeigt, die schon andeuteten, was drinnen zu sehen war. Gab es hier Auseinandersetzungen mit den Museums-Institutionen?

F.E. Generell folgte der Aspekt der Gewaltdarstellung der Politik des jeweiligen Museums. Im Museum Folkwang haben das Museum und dessen Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit mit den Essener Behörden durchgesprochen, welche Auflagen es gibt. Wie ich im Nachhinein erfahren habe, war sogar der Staatsschutz da und hat sich die Ausstellung daraufhin angeschaut, ob es politisch problematische Darstellungen beispielsweise der Muslimbruderschaft gibt. Es scheint eine große Angst da zu sein, dass Dinge zu politisch werden, dass sie nicht kontrollierbar sind. Allerdings kann man in diesem Kontext von Bildern von Toten nicht absehen.

U.B. Ein auffälliges Installationselement sind die Bilder, die weder im Rahmen noch gebeamt auf einer Wand zu sehen sind, sondern auf Transparente montiert wurden, die an der Wand lehnen, als könnte man sie sofort in die Hand nehmen und auf die nächste Demonstration tragen. Sie zeigen jeweils Bilder von Bildern, Demonstranten, die selbst Bilder tragen etc. Versteht sich das als Zitat, als Aufforderung zur Partizipation, als Erinnerung an die Straße?

Diesen Teil hat Rowan El Shimi kuratiert, eine junge Journalistin, die als Freelancerin für eine der ganz großen Zeitungen vor allem im Online-Bereich arbeitet. Die Idee war, mit ihr eine Art Ikonografie – im Sinne von Stereotypen und Ikonen – der Bilder zu erarbeiten. Für die Ausstellung hat sie zum Beispiel das Kapitel der «Woman in the Blue Bra» recherchiert sowie den Reichtum der Zeichen und Bilder, die auf dem Tahrir-Platz auftauchten, wo nicht nur verbal, sondern auch mit dem berühmten Bild der Schuhe oder den erwähnten Bildern der Märtyrer kommuniziert wurde. Das Konzept der Transparente zeigt: Es sind eben keine herausragenden Fotos, sondern ihre Funktion besteht in der Rolle, die sie innerhalb der Proteste spielen. Es sollte die öffentliche Funktion der Bilder betont werden.

K.P. Die Ausstellung versucht, die westliche Fixierung auf den sogenannten Arabischen Frühling etwas zu brechen und Archivbilder hinzuzunehmen, die die doch eher romantische Idee von einem plötzlich ausbrechenden Ereignis kontextualisieren.

Randa Shaat, aus der Serie Under the Same Sky, Kairo, 2003, Copyright Randa Shaat

Heba Farid, «General» Louis Ibrahim Album, aus der Serie Making Heroes – Photograph Albums from Egyptian Military and Police Officers, Sammlung Amgad Naguib

Diese Vorgeschichte haben wir insbesondere in den Ausstellungstationen Essen und Hamburg deutlich abgesetzt – all das was vorher war, und was wir eben im Westen nicht wahrgenommen haben, weder  inhaltlich noch auf medialer Ebene. Die Arbeit von Heba Farid zeigt diese beiden Ebenen: Die eine folgt unserer Bitte, früheren ägyptischen Fotojournalismus zu zeigen – der nur von wenigen ausgeübt wurde, die zudem mit Zensur konfrontiert waren – also ganz anders als die spätere Situation. Und die andere war die Idee des Fotoalbums zur Identität des Militärs, das im jungen, modernen Ägypten der 1950er Jahre unter dem Übervater Nasser, aber auch noch unter Sadat, extrem positiv besetzt war. Erst in den letzten Jahren unter Mubarak hat man dann gemerkt, dass diese Leute die Fleischtöpfe unter sich aufgeteilt haben. Die Fotoalben sollten zeigen, welche Bedeutung das Militär für den Stolz dieses Landes hatte, und natürlich sollten sie auch eines der «alten» Medien repräsentieren, die durch Facebook abgelöst wurden.

K.P. Es lassen sich in der Ausstellung verschiedene Herangehensweisen unterscheiden, zum einen die aktivistische, etwa von Mosireen, ThawraMedia oder von Tahrir Cinema, die Facebook-Seiten auf den Tahrir-Platz projizieren, für alle, die keinen Internetzugang haben und weil es, wie am 28. Januar, einen Shutdown aller Telekommunikationsverbindungen gab…

Öffentliche Projektion von Facebook-Seiten, Ausstellungsansicht Museum Folkwang, Essen, 2012. Foto: Manuel Reinartz

…was im Übrigen einen absolut gegenteiligen Effekt hatte, die Leute sind dadurch erst recht auf die Straße gegangen. Es ist auch interessant zu sehen, wer alles bei dem Shutdown mitgemacht hat – eigentlich alle Mobilfunkunternehmen, etwa Mobinil. Die haben sich erst an dem Shutdown beteiligt, dann aber später mit den Bildern vom Platz, mit der Ikone Revolution, Werbung gemacht …

K.P. … eine zweite Herangehensweisen bilden die verschiedenen Dokumentarismen, die sehr stark an Wahrheitspolitiken interessiert sind. Das wären die Flickr-User oder dokumentarische, archivarische Praktiken z.B. von Heba Farid, die ja auch das Programm für Photographic Memory of Egypt koodiniert. Eine dritte Form wären dezidiert künstlerische Projekte. Wie wolltet ihr die journalistischen und künstlerischen Formen miteinander in Verbindung setzen?

Das war letztlich tatsächlich das schwierigste Kapitel. Wie bekommt man das zusammen? Wir hatten z.B. eine sehr interessante E-Mail-Diskussion mit dem Künstler Hassan Khan, aus der hervorging, dass dies ohnehin ein extrem heißt diskutiertes Thema in der ägyptischen Kunstszene darstellt und man sich uneinig darüber ist, ob es in Ordnung ist, über die Revolution zu arbeiten oder nicht. Es gibt die eine Partei, die sehr zurückhaltend ist, auch weil diese Leute noch keine Haltung zur Revolution einnehmen wollen beziehungsweise erst sehen wollen, was da noch kommt, oder weil sie es für naiv halten zu glauben, man werde wegen der künstlerischen Arbeit wahrgenommen und nicht deshalb, weil das Thema gerade «hip» sei. Und es gibt solche, die voranpreschen und finden, dass dies das erste Mal sei, dass man das eigene Schicksal in die Hand nehmen könne, dass man sich dies nicht entgehen lassen dürfe und alles andere snobistisch sei. Wir wollten gerne Künstler dabeihaben wie Hassan Khan, der auch exzellent schreibt, sich aber leider nicht beteiligen wollte. Seine Schwester dagegen, Nadine Khan, hat zwar mitgemacht, aber gleichzeitig ist ihre Videoarbeit I Will Speak of the Revolution eine bewusste Absage an die Repräsentation. Sie erzählt, während sie ihre Füße filmt, die zum Tahrir-Platz gehen, warum es noch nicht an der Zeit ist, künstlerisch zur Revolution zu arbeiten. Es fällt auch der Satz: «The power of Tahir is that it can not be owned or framed.» Es war uns wichtig, dieses Video in jeder der Ausstellungen zu zeigen, weil es ein ganz klares Statement zu dem skizzierten Dilemma ist. Wir wollten immer künstlerische Arbeiten zeigen, die Referenzen, etwa zu anderen Revolutionen oder zur Zeit vor der Revolution, zum Aspekt der Überwachung, zu den medialen Aspekte, beleuchten.

 

 

Nadine Khan, Mariam Mekiwi, I Will Speak of the Revolution, 2011 (HD-Video, 1:07 Min.)

Ein weites Feld … Manche der Künstlerinnen und Künstler sagen: Ich beteilige mich an der Revolution, nicht als Künstler, sondern als Mensch, weil mir unsere Gesellschaft am Herzen liegt. Und andere sagen: Ich habe es satt, auf einmal immer aus dem Westen nach Revolutionskunst gefragt zu werden, weil ich in dieses Klischee passe. Aber es gibt auch eben die Form des Graffitis, des Street Paintings – die wir dann aber nur in Abbildungen dabei gehabt haben, eben weil wir gewisse Haltungen schwierig oder unreflektiert fanden, die allerdings auf dem Kunstmarkt sehr gut ankommen. Wir hielten es eher mit einer Art von «citizen journalism», auch wenn es sich um ungemütliches Material handelt, das nicht direkt an unsere Kunstvorstellungen anknüpft.

U.B. Das Katalogbuch erhielt Anfang 2014 noch eine aktualisierte Einlage, ein Insert, das die Polarisierung Pro-Mursi / Anti-Mursi zeigt, welche anderthalb Jahre vorher noch nicht so aktuell war. Musstet ihr euch Fragen zur politischen Ausgewogenheit stellen?

Das ist eine wichtige Frage. Es ist klar gewesen, dass die Ausstellung eindeutig Position bezieht und dass Sympathien bestehen mit der Vorstellung einer bürgerlichen Gesellschaft, die unserer näher ist. In einem Gespräch mit einem Filmemacher hatten wir vereinbart, dass er uns Material zusammenstellt, das auch von dem Muslimbrüdern stammte. Die Zusammenarbeit mit ihm hat dann aber leider zeitlich nicht geklappt. Das ganze Spektrum abzudecken, also auch solche testimonies einzubeziehen, die eine ganz andere Sichtweise haben, war für uns allein nicht zu schaffen. Verschiedene Stimmen sind daher nur darüber vermittelt, wenn es Fotos von den Demonstrationen der entsprechenden Parteien gibt; eine eindeutige Stimme z.B. der Muslimbrüder gibt es in der Ausstellung nicht.

U.B. Jetzt, drei Jahre nach der Revolution, ist das zentrale Thema in den Medien vor allem die Enttäuschung, eine Bilanzierung dessen, was alles nicht erreicht wurde, was die Aufbruchsfreude einer Revolution gekostet hat.

Unser Konzept für die Präsentation der Ausstellung in Kairo wäre – und das wollen wir demnächst dort vor Ort diskutieren – zum Beispiel, von Elementen wie der Zeitungswand auszugehen, die viele ägyptische Besucher in Essen sehr begeistert hat. Aber generell bleibt die Frage, ob es sinnvoll ist, das Projekt in Kairo zu zeigen. Wir überlegen etwa, einzelne Arbeiten auszuwählen und ihnen neue Arbeiten gegenüber zu setzen, gerade aus dem journalistischen Bereich, die zeigen, wie die Bilder innerhalb dieser zwei, drei Jahre ihre Bedeutung verändert haben.

Wand mit einer Chronologie von Zeitungen und Tweets , Ausstellungsansicht Museum Folkwang, Essen, 2012. Foto: Manuel Reinartz

Dieses Gespräch erscheint auch in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Heft 10, 1/2014, S. 97–109

  • 1Die Ausstellung wurde erstmals im Museum für Photographie /267 Quartiere für zeitgenössische Kunst und Fotografie der HBK Braunschweig (Sept.–Dez. 2012) gezeigt. In jeweils aktualisierter Fassung war sie danach im Museum Folkwang, Essen (März–Mai 2012) und im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (Aug.–Nov. 2013) zu sehen.

    Das Katalogbuch dokumentiert Bildmaterial und die Diskussionen um das Ausstellungskonzept: Kairo. Offene Stadt. Neue Bilder einer andauernden Revolution, hg. von Florian Ebner und Constanze Wicke, Leipzig (Spector Books) 2013 (dreisprachig). Darin u.a.: Ebner, Wicke, Intervenierende Bilder: Für eine Kartografie der Aufnahmen einer Revolution, 46–52; Philip Rizk, 2011 ist nicht 1968: Offener Brief an einen Zuschauer, 60–67.

    Ausstellungskonzept: Florian Ebner und Constanze Wicke in Zusammenarbeit mit Lara Baladi, Osama Dawod, Rowan El Shimi, Heba Farid, Thomas Hartwell, Tarek Hefny, Ahmed Kamel, Jasmina Metwaly, Alex Nunns, Philip Rizk; unterstützt von der Kulturstiftung des Bundes und dem Goethe-Institut Kairo.

    Unser Dank gilt Esther Ruelfs, Constanze Wicke und Florian Ebner sowie dem Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg und dem Museum Folkwang, Essen.

  • 2Anm. d. Redaktion: Die Website ist nicht mehr online.

Bevorzugte Zitationsweise

Ebner, Florian; Bergermann, Ulrike; Peters, Kathrin: «Kairo. Offene Stadt. Neue Bilder einer andauernden Revolution». In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Web-Extra, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/kairo-offene-stadt-neue-bilder-einer-andauernden-revolution.

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