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Onlinebesprechung

Das geöffnete Intervall

Serjoscha Wiemer: Das geöffnete Intervall. Medientheorie und Ästhetik des Videospiels, Paderborn (Fink) 2014

26.10.2015

Die anhaltende Popularität, der wachsende Markt und die zyklisch wiederkehrende öffentliche Dämonisierung von Videospielen – kurz gesagt: ihre kulturelle Relevanz – spiegeln sich noch nicht in der wissenschaftlichen Erforschung des Gegenstands wider. Einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung medienwissenschaftlicher Videospielforschung leistet Serjoscha Wiemers Monografie Das geöffnete Intervall. Medientheorie und Ästhetik des Videospiels, die theoretische Reflexionen zu Fragen des Bildes, der Zeitlichkeit und des Körpers im Videospiel mit historisch weit verzweigten Fallanalysen verbindet. Wiemers Buch, das aus seiner Doktorarbeit hervorgeht, verfolgt einen eigenständigen Ansatz, der auf (neo-)phänomenologischen Körpertheorien und vor allem auf den Bildontologien von Henri Bergson, Gilles Deleuzes und Maurizio Lazzarato aufbaut.

Begrifflicher Ausgangspunkt ist das technische Bild, das im Fall des Videos einer spezifischen Verzeitlichung unterliegt. Anders als das Filmbild, das auf einem fotografischen Einzelbild oder Fotogramm basiert, ist das gerasterte Videobild strukturell transitiv. Im Videospiel, das der Autor als einen Sonderfall des Videobildes begreift, besteht zudem eine besonders enge Beziehung zum Körper der Spieler_in an der Konsole, der wiederum mit dem Körper der Spielfigur auf dem Bildschirm verschaltet ist. Anders als in narratologischen Videospielstudien ist der elementare Bezugspunkt für Wiemers phänomenologisch geprägte Perspektive nicht die fortgesetzte Spielhandlung, sondern die Situation, die im Gegensatz zu einer statischen Stellung eine transformative Anordnung bildet. Die spezifische Rolle der Spieler_in besteht darin, einerseits das Bildgeschehen wahrzunehmen und andererseits ebenso technisch-medial vermittelt wie unmittelbar körperlich-affektiv zu handeln. Für Wiemer stellt das Videospiel einen wesentlich zeitlichen Prozess dar, «für den die Verschränkung von Wahrnehmungen und Handlungen und damit einhergehend bestimmte Relationen von Bewegungen und (audiovisuellen) Bildereignissen, spezifische Formen von Rhythmen, Affizierungen und Selbst-Affizierungen konstitutiv sind.» (159)

Das erste Kapitel widmet sich der Ontologie des Videobildes und rekapituliert die medientheoretische Kontroverse um die Unterscheidung analoger und digitaler Bilder. Zwar verweist Wiemer auf Edmund Couchots These, der zufolge das digitale Bild immateriell-mathematisch und damit wesentlich neuartig sei. Zudem unterscheide es sich durch schnellere Signalverarbeitung (Prozessualität), vergrößerte Speichermöglichkeiten von Zeit (Transformativität) und erweiterte Feedbackoptionen (Dialogizität) – Faktoren, die für das Videospiel entscheidend sind. Doch plädiert er mit Grahame Weinbren für eine funktionale Differenzierung zwischen dem Herstellungsprozess und der Erscheinungsform des Bildes. Das digitale Bild begreift er schließlich als einen «technisch-aisthetischen Hybrid» (Mark Hansen), der Information in verkörperte Erfahrungen münden lässt.

Das zweite Kapitel widmet sich dem zentralen und eponymen Begriff des Intervalls, den Wiemer über Bergson, Deleuze, Lazzarato und Lorenz Engell entwickelt. Im digitalen Bild bezeichnet das Intervall zunächst den Zwischenraum und die Zwischenzeit der einzelnen Ziffern (digits). Darüber hinaus gilt es in besagten Bildontologien als Voraussetzung für eine Verschmelzung von Zeit, Bild, Körper und Handeln im Videospiel und steht für die Öffnung des Bildes. Ebenso wie für Wiemer das Videobild nicht im objektiven Apparat oder subjektiven Körper zustande kommt, sondern in der Variation des Intervalls als ein hybrides, drittes Bild entsteht, konstituiert das Videospiel einen hybriden, dritten Körper, der partizipiert, agiert, wiederholt und einübt – und damit letztlich neue Subjektivitäten hervorbringt oder diese zumindest temporär leiht. Videospiele versteht der Autor demnach als «Ästhetisierungen des videologischen Intervalls in der Form des Spiels» (101). Das geöffnete Intervall des Videobildes basiert auf der «modularen Offenheit» des Computers. Computer fungieren grundsätzlich als «Hybridisierungsapparatur» (107), die es im Fall von Spiele-Software ermöglicht, permanent auf veränderte Spielsituationen reagieren zu können. Das spielerische Handeln bedeutet wiederum nicht nur ein mechanisches Ausführen von Computerbefehlen, vielmehr eröffnet es einen Möglichkeitsraum für Kontingenz.

Bildontologisch leitet der Autor dieses Verständnis über Bergsons Begriff des Bildes her, das als ein Scharnier zwischen Subjekt und Objekt, Vorstellung und Wirklichkeit fungiert und Formen der Wahrnehmung, Handlung, Empfindung und Erinnerung prägt. Mit Lazzarato, der (ähnlich wie zuvor Deleuze mit seiner Filmphilosophie) anhand von Bergsons Begriffen seine Videophilosophie entwickelt, versteht Wiemer das Videobild als eine «Zeitkristallisationsmaschine», welche die Zeit für die Wahrnehmung moduliert.

Besonders innovativ ist das Kapitel 3 über Praktiken und Partizipationsformen. Hier behauptet Wiemer allen ökonomischen Unterschieden zum Trotz eine «strukturelle Homologie» (78) zwischen kommerziellen Videospielen und der frühen experimentellen Videokunst der 1960er und 1970er Jahre. Letztere reflektierten die Potenziale und Grenzen des neuen Mediums Video (Echtzeitübertragung, elektronische Bildmanipulation, mise en abyme-Effekte etc.) und laborierten mit vielfältigen Partizipationsformen. Wiemer erinnert an Nam Jun Paiks Idee eines Taschensynthesizers und an seine fernsehkritische Arbeit Participation TV, in der das Publikum über technische Mechanismen das Videosignal manipulieren konnte, sowie an Dan Grahams Closed-Circuit-Videoinstallationen, die aus autoreferenziellen, multiperspektivischen und multitemporalen Anordnungen aus Kameras, Monitoren und Spiegeln bestanden. Gerade in den medialen Interaktionsformen und Rückkopplungssystemen zwischen Leibraum und Bildraum, wie sie besonders in der computergestützten Bewegungserkennung der Eye-Toy-Systeme (z.B. Wii) vorhanden ist, erkennt Wiemer eine systematische Nähe zu den frühen Videoexperimenten. Seiner These zufolge laufen sowohl die Videokunst als auch das Videospiel aufgrund ihrer jeweiligen selbstreflexiven Verfahren auf eine gesteigerte Selbstwahrnehmung und «Differenzerfahrung» (100) hinaus. Doch gerade hier stellt sich die Frage, ob nicht die Selbstreflexion im Fall der Videoinstallationen den genuin ästhetischen zweckfreien Zweck darstellt, während sie in den Videospielen lediglich als Mittel zum Zweck der Bewältigung des Spielabschnitts dient.

Überzeugend ist auch der vierte Abschnitt über die Aktions- und Rezeptionsformen, insbesondere über die Erzeugung von Realitätseffekten durch Formen der Immersion, die vor allem aus Diskursen der Malerei, des Kinos und der Virtual Reality bekannt ist. Wiemer verwirft zunächst den gängigen Abbildrealismus und das technizistische Fortschrittsdenken, deren Ziel die totale Illusion ist. Stattdessen geht er nüchtern von einer existierenden Vielfalt immersiver Erfahrungsmodi aus und unterscheidet die räumlich-visuelle, repräsentative von der sensomotorischen, transformativen Immersion. Räumlich-visuelle Immersionsmomente entstehen beispielsweise in filmischen Sequenzen, durch Genreerwartungen und narrative Entwicklungen. Während viele Spiele zentralperspektivisch organisiert sind und über die dreidimensionale Projektion den Bildraum rationalisieren, orientieren sich andere mit ihren flächig-farbigen Darstellungsmodi eher an Comicstrips und Animationsfilme. Neben narrativen Darstellungsräumen und den explorativen, quasi kartografischen Raumaneignungsweisen wirken auch kinetische oder hodologische Aktionsräume immersiv. Dabei handelt es sich um abstrakte Bildräume, die sich erst durch die Spielinteraktion sukzessiv entfalten, beispielsweise in dem Ego-Shooter-Spiel Doom (1993) oder dem Autorennspiel Wipe Out 3 (1999).

Die sensomotorische Immersion vollzieht sich im Interface zwischen Spielapparatur und Spieler_in und stellt eine «Intimität zum Bild» (146) her. In Virtual Reality-Umgebungen können realweltliche und medial vermittelte Körpererfahrungen ebenso diffundieren wie die Grenzen von Spiel und Nicht-Spiel, Ich und Nicht-Ich. Derart starke Intensitäten (temporäre Verschmelzung, rauschhafte Selbstvergessenheit) gilt es allerdings von schwachen und grundlegenderen Varianten (kybernetische Kopplung, Auge-Hand-Koordination) zu unterscheiden. Doch auch letztere Fälle produzieren einen Präsenzeffekt durch die scheinbare körperliche Anwesenheit im Bild, beispielsweise in der Rückkopplung des Programms auf die Konsole (Force Feedback) oder der Gestensteuerung bei Wii.

Mehr als ein Drittel des Buches ist komparativen Fallanalysen gewidmet, die abseits der empirischen Untersuchung individueller Spielerlebnisse grundlegende Strukturen und Tendenzen der Zeit-Körper-Relationen im Videospiel freilegen. Die Analysen bleiben eng an eine Bildtaxonomie rückgebunden, die sich begrifflich stark an Gilles Deleuzes Filmphilosophie orientiert und die für den Gegenstand des Videospiels modifiziert wird. Das Bewegungs-Bild stellt dabei sowohl den allgemeinen Bildtypus des Videospiels als auch den Sonderfall eines nicht-zentrierten Aktionsbildes dar. Das gängige Aktionsbild bezieht sich auf einen sensomotorischen Zusammenhang, in dem die Wahrnehmung kausalistisch dem effektiven Spielhandeln untergeordnet wird, wie es beispielsweise in dem Kampfsportspiel Vitua Fighter (1993) oder dem Tanzspiel Dance Dance Revolution (1998) der Fall ist. Die Unterordnung bedeutet allerdings auch hier nicht, einer Befehlsfolge mechanisch zu folgen, sondern Körper, Bild und Rhythmus in Resonanz zu bringen und eine hybride, kontingente Einheit entstehen zu lassen. Dass diese virtuose dynamische Einheit auch zum ästhetischen Selbstzweck werden kann, zeigt das Musikvideo Dance, Voldo, Dance (2002) von Chris Brandt. Bei dieser Tanzperformance handelt es sich um die Aufzeichnung einer Sequenz aus dem Kampfsport-Videospiel SoulCalibur (1998). Die Körper der Fantasy-Figuren tanzen teils synchron zu elektronischer Musik und parodieren immer wieder sexuelle Bewegungen. Letztlich bleibt hier die Frage, ob nicht der Medienwechsel vom Videospiel zum künstlerischen Musikvideo einen ästhetischen Unterschied ums Ganze bewirkt.

Der dritte Bildtyp ist das Affektbild. Entsprechend Deleuzes Taxonomie wird im Intervall eine Unterbrechung oder ein Überschuss des sensomotorischen Schemas hervorgerufen und ein Möglichkeitsfeld eröffnet, beispielsweise in zeitgedehnten Sequenzen und Momenten rauschhaften Spielens. Gegenstand der Analyse ist hier vor allem das Horror-Franchise Silent Hill (1999), das neben eindeutigen Aktionsmomenten den Handlungsfluss stellenweise unterbricht. Das Durchstreifen beliebiger leerer Räume oder das mechanisch-repetitive Einschlagen auf deformierte Puppenkörper wirkt eher wie eine «Parodie des Aktionsbildes» (199) und indiziert «rein optische und akustische Situationen» (Deleuze), die Wiemer als «Krise» und «Destabilisierung des Subjekts» (196) wertet. In allgemeinerer Hinsicht verdeutlicht die Diskussion des Affekts, dass Videospiele nicht nur Formen spielerischer Aktivität sind, sondern zugleich Momente lustvoller Passivität beinhalten und dass gerade dieses spezifische Alternieren von autonomen und heteronomen Momenten das Videospiel als kulturelle Praxis auszeichnet.

Das Zeit-Bild stellt den letzten und kompliziertesten Fall dar. Deleuze bezeichnete damit Bilder, die eine «direkte Präsentation der Zeit» gegenüber der indirekten Repräsentation von Zeit im Aktionsbild sowie eine Aufhebung der Dominanz sensomotorischer Sukzession über die Zeit im Bewegungs-Bild ermöglichen. Dazu betrieb er einen nicht immer schlüssigen metaphysischen Aufwand, um Wege zu finden, die nicht-individuell erfahrene «zeitlose Zeit» im offenen Bild nicht-repräsentativ zu präsentieren. Auch in diesem Fall stützt sich Wiemer ganz auf Deleuze und sucht nach «situative[r] Offenheit», einen «sinnliche[n] Erfahrungsraum, in dem die Zeit gewissermaßen ‹freigesetzt› wird», Möglichkeiten für «freie Formen ästhetischen Spielens», Momenten der «Koexistenz der Vergangenheit mit der Gegenwart», «Formen multipler Verkörperung» und «Fluchtlinien der Subjektivierung». Fündig wird er in den Abenteuer- und Kampfspielen Prince of Persia: Warrior Within (2004) und Shadow of the Colossus (2005). Auffällig sind dort die wiederkehrenden Perspektiv- und Einstellungswechsel, die enormen Größenunterschiede und Close-ups der Figuren, die Vanitas-Motive sowie der narrative Einsatz von Zeitportalen, welche die Spielfigur denselben Ort in der narrativen Gegenwart und Vergangenheit durchstreifen lassen. Wiemer interpretiert dies als Formen der Suspension, Transformation und Abstraktion sensomotorischer Relationen, die ein freies «ästhetisches Spielen» und «intellektuelle Anschauung» (234-236) ermöglichen, ein «Kaleidoskop ineinander verwobener raumzeitlicher Konstellationen, Schichtungen und Möglichkeiten» (239).

Die Nähe zu Deleuzes Begriffsapparat wirft allerdings die allgemeine Frage nach dem Mehrwert des methodischen Verfahrens auf, eine bestehende Taxonomie auf neue Gegenstände zu applizieren – eine Frage, die fairerweise an eine ganze Reihe Deleuzianischer Medientheorien zu richten wäre. Erstens, weil dadurch die Reichweite des Erkenntnisgewinns von vornherein beschnitten wird und zweitens, weil blinde Flecken unnötigerweise mit übernommen werden. Letzteres betrifft Deleuzes weitgehende Ausblendung der Mediengeschichte, die auch bei Wiemer eine untergeordnete Rolle spielt. Außer einem knappen Verweis auf die filmbasierten Spielautomaten der Fünfzigerjahre werden historische Spiel-Dispositive und historische Erkenntnisse der Bewegtbildforschung kaum berücksichtigt, was für die angestrebte Analyse der Zeit-Körper-Relationen allerdings durchaus lohnend wäre. Die Krise des Aktionsbildes, die bei Deleuze auch eine Konsequenz aus den traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges ist, wird in Bezug auf das Videospiel historisch entkernt und besitzt rein analytischen Wert.

Auch gegenüber dem zweiten theoretischen Gewährsmann, Maurizio Lazzarato, wäre mehr kritische Distanz gerechtfertigt. Dessen Behauptung einer strukturellen Nähe zwischen Video und Kapitalismus als Akkumulation «deterritorialisierter» oder «beliebiger Zeit», die dem Video eine «Schlüsselrolle» bei der «maschinischen Integration» der Subjekte zuspricht, kommt ohne jede empirische Grundlage aus und bleibt bestenfalls vage. Auch andere kursorische Bezüge zu kritischen Macht- und Gesellschaftstheorien fallen zu allgemein aus, z.B. die Produktion «gelehriger Körper» durch Videospiele und ihre Degradierung zum «Anhängsel der Maschine» bei Foucault und Marx.

Wiemers eigene Theorieentwicklung in Das geöffnete Intervall überzeugt wiederum durch ihre souveräne und vielschichtige Argumentation. Innerhalb der Videogames Studies und der Medienwissenschaft allgemein ermöglicht Wiemer eine neue Perspektive und äußerst gewinnbringende Alternative zu narratologischen, (neo-) formalistischen und hardware-orientierten Ansätzen. In produktiver Weise entwickelt er bildontologische und neophänomenologische Theorien weiter, verknüpft sie und überträgt sie auf den Gegenstand des Videospiels. Die ausgiebigen Fallanalysen, begleitet von elf schönen Farbabbildungen, bezeugen nicht nur die generische und historische Vielfalt dieses vergleichsweise jungen Forschungsgegenstands. Medienanthropologisch legen sie auch überzeugend dar, dass Videospiele einen vielfältig verzweigten und dennoch singulären Weltbezug eröffnen.

Bevorzugte Zitationsweise

Tedjasukmana, Chris: Das geöffnete Intervall. Serjoscha Wiemer: Das geöffnete Intervall. Medientheorie und Ästhetik des Videospiels, Paderborn (Fink) 2014. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/das-geoeffnete-intervall.

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