Julia Bee: Gefüge des Zuschauens. Begehren, Macht und Differenz in Film- und Fernsehwahrnehmung, Bielefeld (transcript 2018)
Gefüge des Zuschauens
Die Suche nach empirischen medienwissenschaftlichen Methoden, die sich von sozialwissenschaftlichen Ansätzen unterscheiden und sie sinnvoll ergänzen können, ist ein wichtiges Anliegen der aktuellen Forschung. Methodenworkshops sind feste Bestandteile medienwissenschaftlicher Forschungsprogramme. Nicht selten steht dann die Frage zur Diskussion, ob die eher an Theoriebildung und offenen Analyseformen interessierte Medienwissenschaft sich der Verwertungslogik und Vergleichbarkeit mit Forschungsdesigns in den Natur- und Sozialwissenschaften und somit Anforderungen, die Drittmittförderungen an sie stellen, gar nicht erst unterwerfen sollte.1 Eine mögliche Konsequenz daraus besteht darin, ganz auf die Ausdifferenzierung eines validen Settings empirischer Methoden zu verzichten.
Julia Bee leistet mit ihrer Monographie Gefüge des Zuschauens einen Beitrag zur Methodenfrage, der eine nicht-positivistische Empirie verfolgt und dabei die Unterscheidbarkeit von Theorie und Empirie radikal in Frage stellt. Das Buch verfolgt das Ziel, einen empirischen Ansatz in einem theoretischen Gefüge aus Medienwissenschaft, Philosophie und Bildtheorie zu entwickeln. Dies geschieht in einer entschiedenen und klugen Herangehensweise, die ein großes Inspirationspotenzial für künftige empirische Arbeiten in der Medienwissenschaft bietet.
Das Buch geht auf die Dissertation der Verfasserin zurück, die an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf entstanden ist. Wichtige Experimentier- und Forschungsräume stellten das von der VolkswagenStiftung geförderte Projekt «Wiederkehr der Folter?» bereit, in dessen medienwissenschaftlichem Einzelprojekt Julia Bee als Mitarbeiterin tätig war. Über die hier organisierten Workshops mit jungen Erwachsenen hinaus hat die Verfasserin weitere Gruppenwerkstätten und Interviews durchgeführt. Stets ging es darum, die Film- bzw. Fernsehwahrnehmung in Bildpraktiken und sprachliche Aussagen zu übersetzen. Im Zentrum stehen Rezeptionssituationen der Serie True Blood (C: Alan Ball, USA 2008-2014), genauer: der ersten Folge der ersten Staffel dieser Serie, und des Films The Dark Knight (R: Christopher Nolan, USA 2008). Die Produktionen wurden ausgewählt, weil sie den für die Studie wichtigen Zusammenhang von Differenz, Begehren und Macht besonders zentral stellen und sich zudem beide anspielungsreich auf die US-amerikanische Geschichte beziehen (14). Nach den jeweiligen Screenings hatten die Teilnehmer_innen 30 Minuten Zeit, um individuell Collagen aus Zeitschriften anzufertigen. Es folgten Gruppengespräche oder Einzelinterviews zu den Collagen. Dabei war es nicht das Ziel, eine ‹Wirkung› der audiovisuellen Bewegtbilder zu erfassen oder gar bildlich oder sprachlich zu repräsentieren. Genau hier unterscheidet sich die Herangehensweise radikal von der kommunikationswissenschaftlichen Publikumsforschung: Die Erfahrung eines Films bzw. einer Fernsehserie denkt die Verfasserin nicht allein auf menschliche Subjekte und auch nicht auf ein audiovisuelles Produkt bezogen. Vielmehr interessiert sie «das gemeinsame Hervorbringen performativer Netzwerke, ein Werden, das als solches besteht und nicht in einem Subjekt aufgeht» (82). Aus diesem Grund bekommen die Collagen in ihrer Materialität und in ihrer Bedeutung für die Analyse einen gleichberechtigten Stellenwert neben den Aussagegefügen der Gespräche, den Bewegtbildern aus Serie oder Film und den im Schreiben erschlossenen theoretischen Bezügen.
Die Darstellung der konkreten Versuchsanordnung beschreibt Julia Bee eingebettet in ein Kapitel, das im Anschluss an die einleitende Hinführung sehr sorgfältig die theoretischen und methodischen Referenzen ihrer Studie offenlegt. Gefüge des Zuschauens setzt sich zu bildlichen Methoden der qualitativen Sozialforschung oder zur visuellen Anthropologie keineswegs in strikte Opposition. In der Collagentechnik lehnt sie sich sogar eng an die Methodik der Gruppenwerkstatt von Helmut Bremer und Christel Teiwes-Kügler an, entwickelt diese aber entscheidend weiter, denn die Collage ist in Bees Verständnis weit mehr als ein, mit Hans-Jörg Rheinberger formuliert, ‹technisches Ding› einer Experimentalanordnung. Sie wird zum Erkenntnisding, zu einer Assemblage, in der die Prozesse eines (künstlerischen) Forschens mit Bildern kenntlich und Affizierungen der Bewegtbilder beschreibbar werden. Die theoretischen Texte, die Julia Bee geltend macht, um diese Herangehensweise nachvollziehbar zu machen, sind vielfältig, aber eng aufeinander bezogen: Um die Vorgänge des nicht-linearen Werdens einer Erfahrung des Zuschauens nachzuvollziehen, um ein wechselseitiges Affizieren und Affiziertwerden von Akteur_innen, medientechnischen Arrangements, Bildern und Aussagen in nicht nur menschlichen Prozessen des Wahrnehmens zu bestimmen und in ihren Affekt-Politiken und Differenzierungen kritisch zu analysieren, bezieht sich Bee u.a. auf Arbeiten von William James, Alfred North Whitehead, Karin Barad, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Michel Foucault, Brian Massumi und Georges Didi-Huberman.
Über das collagenartige Serien-Intro, das nicht nur bei True Blood anzutreffen ist, sondern auch im Fall der Serie True Detective (C: Nic Pizzolatto, USA 2014) das «affektive Milieu» (108) der Serie antizipiert, verdichtet die Verfasserin ein zentrales Konzept ihrer Studie: ‹Dramatisierung der Erfahrung›. Die Gefüge, denen sich Julia Bee in ihrer Arbeit widmet, sind im Anschluss, aber in deutlicher Erweiterung von Bruno Latours Netzwerken aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteur_innen «Teil eines Dramas verteilter Ansprachen und Äußerungen» (34), die wiederum im Forschungssetting ihrer eigenen Studie dramatisiert und artikuliert werden. In den untersuchten Gefügen des Zuschauens wird nun die als Relation bzw. als medialer Prozess bestimmbare Erfahrung von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten zum zentralen Vorgang dieser Dramatisierung. Insofern können die im Forschungsprozess verfertigten Collagen – den Serien-Intros ähnlich – mit Deleuze als Dramatisierungen und Intensivierungen von audiovisuellen Bewegtbildern gelten: «Collagen intensivieren anders, vielleicht sogar wesentlich stärker als Intros ein komplexes, zeitlich ausgedehntes Sujet, Ästhetiken, Stimmungen und Handlungen.» (112)
Entlang der Begriffe Erfahrung, Macht, Begehren, Gewalt und Dauer entfaltet die Studie nach dieser scharfsinnig durchdachten theoretischen und methodologischen Positionierung zahlreiche luzide mikroempirische Analysen von Gefügen des Zuschauens. Die Verfasserin verbindet dabei kleinteilige Beschreibungen von Collagen mit einem intensiven Durcharbeiten der (zum Teil in Transkripten den Leser_innen zugänglichen) Interviews und Analysen von Ausschnitten aus True Blood und The Dark Knight. Jede Fallstudie bringt dabei andere Aspekte hervor, wirft neue theoretische Fragen auf und durchdringt die Materialitäten und Medialitäten der Erfahrungsprozesse auf je eigene Weise. In den Collagen und Interviews werden somit Affizierungsgefüge wie ein «Milieu der Angst» (257) sichtbar, die im filmischen Produkt unsichtbar virulent sind; die visuellen und sprachlichen Dramatisierungen beziehen sich kritisch auf das jeweilige mediale Produkt und können ihm queere und feministische Dimensionen hinzufügen (vgl. 235); oder sie lassen «differentielle Gefüge aus Macht und Begehren» (169) kenntlich werden, die historische und soziale Konstellationen in nichtlinearen Zeitlichkeiten zusammenfügen. In ihren präzisen und dichten Beschreibungen nimmt Julia Bee auch die Versatzstücke der Collagen selbst – Fotografien aus Hochglanzmagazinen – in den Blick und bezieht ihre «Sichtbarkeitsverhältnisse, Objektivierungen und visuelle[n] Klischees» (264) mit in die Analyse ein. Gruppenwerkstatt und Collage verfertigen somit eigene Differenzierungen bzw. Machtverhältnisse und werden von ihnen durchzogen.
Für welche Leser_innen ist dieses Buch besonders interessant? Gewiss stellt die Studie einen wichtigen Forschungsbeitrag zu ihren televisuellen bzw. filmischen Gegenständen dar. Gefüge des Zuschauens steht jedoch in seinen kleinteiligen Analysen für sich, es bietet kein übertragbares Potenzial der Anwendung – weder der Analysebefunde noch des Forschungssettings. Das Buch ist selbst, dem Kartierungsvorschlag von Deleuze und Guattari folgend, ein Gefüge, bestehend aus Plateaus, ohne Fazit und ohne Ergebnissicherung, die klar auf den Punkt bringen könnte, welchen Ertrag, welche «anwendbaren Fertigpakete» (11) es nun über seine ganz spezifischen Assemblagen hinaus hervorbringt. Aber genau weil es so nicht ‹funktionieren›, nicht ‹verwertbar› sein will, ist es für alle diejenigen, die auf der Suche nach innovativen methodischen, theoretisch versierten Ansätzen sind, die medienwissenschaftliche Gegenstände neu reflektieren und als Gegenstände forschend verfertigen wollen, eine vielfältig inspirierende Quelle und Fundgrube. Besonders in dieser Haltung, in dieser Sichtweise, ist es ein großer Gewinn, ja ein Lesevergnügen, Julia Bees Gefüge des Zuschauens zu durchdringen und weiterzudenken.
- 1Vgl. die Methodendiskussion in der Zeitschrift für Medienwissenschaft 20 (1/2019).
Bevorzugte Zitationsweise
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