«The skin is faster than the word.»*
Kommentar zu Brian Massumis erstmals in Deutsch vorliegender Aufsatz- und Interviewsammlung
Brian Massumi: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin (Merve) 2010
Mitte der 90er Jahre habe ich Brian Massumi in Sydney, Australien, kennen gelernt, als er sich, so wie ich, zu Forschungszwecken in down under aufhielt. Es war die Zeit der Körper und des New Technology-Hype, die Jahre zwischen Volatile Bodies1 (der australischen Philosophin Grosz) und Body Obsolete2 (des australischen Künstlers Stelarc), die Zeit der Cultural Studies und eines sich abzeichnenden affektiven turns. Der kanadische Philosoph war zu diesem Zeitpunkt vor allem als Übersetzer der Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari ins Englische sowie mit seinem A user’s guide to Capitalism and Schizophrenia3 bekannt geworden. Vor diesem Deleuze’schen Hintergrund arbeitete Massumi in Sydney an einer «Kulturtheorie des Affekts», wie er sein Vorhaben umschrieb. 2002 erschienen Parables for the Virtual , eine Sammlung von Aufsätzen zu «Movement, Affect, Sensation», so der Untertitel. Dieser Band beginnt mit den Sätzen: «When I think of my body and ask what it does to earn that name, two things stand out. It moves. It feels. In fact, it does both at the same time.» (S. 1) Feeling und moving werden fortan die zwei Beine sein, auf denen Massumi seine Arbeit zum Affekt weiterführt. Der Affekt ist in dieser Sehweise ein Intervall, er ist das, was schon ist, aber noch nicht in Aktion, das, was bereits vorbei ist, aber noch nicht bewusst: «in-between time after before but before after” 4. Diese Affektdefinition ist Deleuze geschuldet, enthält jedoch auch ein Element deutscher Medienforschung, welches sich in einem großen Bogen mit den Reiz-Reaktions-Untersuchungen eines Hermann von Helmholtz verbinden lässt, um in den Theorien von William James und Alfred N. Whitehead eine heute wiederentdeckte Basis zu sehen. Doch Schritt für Schritt.
In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts untersuchen Hertha Sturm und ihr Team die Reaktionen von Kindern beim Fernsehschauen und entdecken dabei, dass etwas fehlt, dass sich eine Lücke auftut - zwischen Reiz und Reaktion -, und dass die Reaktion durch diese fehlende halbe Sekunde, um die es sich dabei handelt, irgendwie falsch ist, sozusagen fehl geleitet, die Kinder also traurig anstatt fröhlich auf einen lustigen Film reagieren und umgekehrt.5 Auch Helmholtz und andere haben im 19. Jahrhundert wie besessen gemessen, um an Fröschen und anderen Tieren festzustellen, dass die Wahrnehmung immer zu spät kommt, dass zwischen Reiz und Reaktion Zeit vergeht, Zeit verschwindet.
Massumi entdeckt diese «missing half second» und transponiert sie in das philosophische Gefüge von Gilles Deleuze - und aus einer fehlenden 1/2 Sekunde wird ein Intervall, das nun zu voll ist, um wahrgenommen zu werden, ein too much stellt sich plötzlich ein, welches Massumi als Zone des Affekts übersetzt, als eine Intensitätszone, die nie vom Bewusstsein eingeholt werden kann, sondern nur als Körper in Bewegung erfahrbar ist.
Affekte sind heute längst in der Politik sowie im gesellschaftlichen Raum insgesamt angekommen. Dies ist kein sonderlich neuer Befund. Doch ihre Instrumentalisierung im closed circuit der Medien hat an zynischer Schärfe und unverhohlenem Einsatz sicherlich zugelegt. Das politische Spiel mit den Affekten konzentriert sich dabei auf die Angst - diese, soviel hatte bereits Sigmund Freud angemerkt, ist sicherlich ein Affekt, einer, der den Menschen wie ein Signal trifft.6
Massumi hat 1993 einen Band zu Politics of Everyday Fear7 herausgegeben, unter anderem mit Beiträgen von Steven Shaviro, Meaghan Morris und Kathy Acker. Es geht darin, wie er im Vorwort erläutert, um eine Analyse, wie speziell in den USA Angst massenmedial organisiert wird, um politische Interventionen zu legitimieren. Seit dem 11. September 2001 hat dieses Thema seine kriegerischen Konsequenzen in aller Deutlichkeit gezeigt.
Mit diesem Hinweis kann aber nun auch endlich das vorliegende Mervebändchen eingeführt werden, welches das Thema der Angst weiterschreibt: «Angst (sagte die Farbskala)» (S. 105-130). 2002 führt das Heimatschutzministerium der Bush-Regierung ein farbcodiertes Terror-Warnsystem ein: "grün" gleich "niedrig", "blau" gleich "wird überwacht", "gelb" gleich "erhöht", "orange" gleich "hoch", "rot" gleich "akut". «Seit der Einführung tanzt die Nation zwischen Gelb und Orange.» (S. 105) Dieses Beispiel dient Massumi dazu, die Register der Affektmodulation und ihre politisch-theoretischen Implikationen auszuspielen. Gelb-Orange funktioniert als Signal, wodurch sich «zentrale Regierungsfunktionen direkt und drahtlos mit dem Nervensystem jedes Einzelnen (verkoppeln).» (S. 106) Womit wir bei der entscheidenden Definition angelangt sind, die die Arbeit Massumis heute charakterisiert: ,direct perception‘, amediale, asymbolische Wahrnehmung. Ein Thema, zu dem in Kürze ein weiterer Band von Massumi in Englisch erscheinen wird, wie man bei der Buchpräsentation von Ontomacht hören konnte.8
Das Thema der direkten Wahrnehmung als Basis des Organismus (auch des humanen) ist nun a) kein neues Thema und b) eines, das in unterschiedlichen Bereichen von Forschung und Kunst heute von großer Brisanz ist. Leider gibt der Band hierüber wenig Auskunft. Denn außer dem zitierten Angstaufsatz sind die anderen vier Beiträge Interviews, die auf Englisch bereits vor längerer Zeit erschienen sind und nicht unbedingt kohärente Einblicke in Massumis Arbeit ermöglichen. Meiner Meinung wäre dies mit einer Übersetzung oder Teilübersetzung von Parables for the Virtual weitaus besser ermöglicht worden. Im vorliegenden Band dreht sich das Interview mit Mary Zournazi («Bewegungen navigieren»9) um körperliche Bewegung, Intensität, Direktheit und Unmittelbarkeit der Bewegung. Das Gespräch «Das Denken-Fühlen der Geschehnisse. Ein Schein eines Gesprächs» 10 fand am V2_Institute for the Unstable Media in Rotterdam statt und dreht sich um interaktive Kunst. Am Titel dieses Gesprächs lässt sich allerdings ein weiterer, durchaus ärgerlicher Umstand festmachen: die Übersetzung. Diese ist wirklich missraten. Nun kann man deutsche Theorie-Übersetzungen aus dem Englischen prinzipiell in Frage stellen, doch wenn man sich entschieden hat, einen Philosophen wie Brian Massumi dem deutschen Publikum vorzustellen, dessen Werkzeug das Denken im Schreiben ist, dann muss dies auch mit einer adäquaten Übersetzung passieren – dies ist definitiv nicht der Fall. «The Thinking-Feeling of What Happens. A Semblance of a Conversation» zielt an seiner deutschen Wiedergabe vorbei. Folgt man Erin Manning jedoch in ihrem Vorwort, dann ist «das Schreiben von Brian Massumi (...) ein Ereignis». (S. 7) Umso wichtiger wäre es also gewesen, in seine Begrifflichkeiten, Theorie-Ansätze und philosophische Traditionen eingeführt zu werden, was der Band aufgrund seiner Auswahl nicht zu leisten vermag.
Massumi leitet an der Université de Montréal den Workshop Radical Empiricism. In Hinblick auf seine Deleuze-Orientierung ist dies nun eine konsequente Weiterführung von Deleuze’s transzendentalem Empirismus. Diese ist jedoch keine nur graduelle, sondern eine tief gehende. Erfahrung wird nun nämlich zur basalen Kategorie. William James‘ Pragmatismus und radikaler Empirismus sowie Alfred N. Whiteheads Metaphysik bilden den Rahmen.
Neben diesen beiden Ahnherren sind noch der Psychoanalytiker und Entwicklungs- psychologe Daniel Stern sowie die Whitehead-Schülerin Susanne Langer als weitere Theoriebausteingeber zu nennen. Stern ist mit seiner Theorie des «emergent self»11 vor allem auch im Feld der Neuen Medien (die von ihrem Auftauchen an mit der Dimension des Taktilen in Verbindung gesehen worden sind) bekannt geworden, da er die Entwicklung des Selbst als Nebeneinander verschiedener Phasen bestimmt hat, die sich nicht ablösen, sondern die gleichzeitig bestehen und durch unterschiedliche Stimuli aktiviert werden können. Die Phase der amodalen Perzeption, in der der Säugling quer zu den Sinnen wahrnimmt, bestimmt Stern als vitalen Affekt, der sich wesentlich über Kinetik und Motorik auszeichnet und in bestimmten Umgebungen ,abrufbar‘ ist. Das meint Massumi, wenn er im Kontext der Wahrnehmung von Bewegung von amodaler Perzeption spricht. Diese, übertragen in den Bereich der Kunst, erfährt ihre begriffliche Struktur durch Susanne Langers Arbeit über die ästhetische Wahrnehmung als Wahrnehmen von virtuellen Objekten (semblance objects), d.h. wir nehmen mehr wahr als wir sehen. In ihrem Band Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite and Art 12 hat Langer zwischen «diskursiver» und «präsentativer Symbolisierung» unterschieden, um auf dieser Basis eine «Morphologie des Fühlens» zu entwickeln.
«Wahrnehmung [...] ist immer direkt und unmittelbar. Wahrnehmung ist stets ein Ereignis, das sich selbst umfasst.» (Ontomacht, S. 183) In diesem Zitat ist die Philosophie Whiteheads geballt zusammengefasst, eine Philosophie, die eine Kosmologie verfolgt und deren Metaphysik nicht auf Substanz, sondern auf dem Prozessualen aufbaut. Die Wiederentdeckung von Whitehead ist jedoch vor allem Isabelle Stengers zuzuschreiben. In ihrem ebenfalls bei Merve erschienenen Band Spekulativer Konstruktivismus 13 hat sie ihre Deleuze- und Whitehead-Lektüre vorgelegt, was inzwischen zu zahlreichen weiteren Zusammenführungen dieser beiden Philosophen geführt hat.14 Stengers Unternehmen, die enttäuschte Leserschaft von Whitehead und Deleuze (vor allem des Buches «Was ist Philosophie») wieder zu gewinnen, besteht darin, die entscheidenden Gemeinsamkeiten beider Denker, die sich radikal gegen die abendländische Metaphysik stemm(t)en, ins Zentrum zurückzuholen. «Vergessen wir die Unterscheidung von Sachverhalten, Dingen und Körpern» schreibt Stengers (S. 40), um Realität und Prozess zueinander in Beziehung zu setzen.
Womit wir wieder zum Affekt - und damit zu Brian Massumi zurückgekehrt wären. Der Affekt, über den sich Whitehead und Deleuze verbinden lassen, ist die Kraft, die eine Form entstehen lässt, womit es keine Körper ohne Affekt gibt, sondern Körper sind immer das Ergebnis - das Ereignis - affektiver Modulationen, soweit Massumi. Nach Deleuze und Guattari ist der Affekt eine unkörperliche Transformation, er ist eine virtuelle Kraft, die dem dynamischen Prozess immanent ist. Für Massumi ist die entscheidende Frage jedoch: Wie kommt man von dieser virtuellen Kraft zu einem embodied event? Und wie kann dieses verkörperte Ereignis begrifflich gefasst werden? «Erlebte Qualitäten», «Empfinden des Lebens», «ozeanische Erfahrung» - all dies Begriffe, die, wie im Interview mit V2 im vorliegenden Band deutlich gesagt wird, als neue Romantik abgewehrt werden. Mit diesem Vorwurf könne er, so Massumi, durchaus leben. Und in einem Fall wäre Romantisierung durchaus sogar richtig - nämlich in Bezug auf seinen Begriff der Intensität. «Damit meine ich die immanente Affirmation eines Prozesses in einer ihm eigenen Begrifflichkeit. Dabei geht es [...] um eine Aktivität. Diese findet dann statt, wenn ein Prozess sich auf die Grenze seiner ihm eigenen Tätigkeit zu bewegt. Es ist nichts Geheimnisvolles daran, diesen selbstaffirmativen Prozess ,Leben‘ zu nennen.» (Ontomacht, S. 186) Am Ende des Interviews erklärt Massumi, weshalb er diese seine Arbeits- und Denkweise als «spekulativen Pragmatismus» bezeichnen möchte. Weil 99 Prozent der empirischen Welt aus «erlebter Spekulation» bestehe und dies einem «Surfen ‚am vorderen Rand eines Tendenz-Wellenberg(s)’» (S.188/89) gleichkomme, müsse man ganz im Sinne von William James Kontinuität und Diskontinuität nehmen, wie sie kommen. «Der Strand fällt, wenn die Wellen aufschlagen. Man muss beiden ihr Recht geben.» (S.189) Als Foucault von den potenziell vergehenden (menschlichen) Spuren im Sand am Meer geschrieben hatte, dachte er weder an den Strand noch an die Wellen – insofern hat sich die Perspektive seitdem sehr vergrößert – oder verändert.
September 2010
* Brian Massumi, The skin is faster than the word, in: Paul Patton (Hg.), Deleuze: A Critical Reader, Cambridge, Mass. (Blackwell Publishers) 1996, 217-239.
- 1Elizabeth Grosz, Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism, Bloomington, Indianapolis (Indiana Univ. Press) 1994.
- 2de.wikipedia.org/wiki/Stelarc, zuletzt besucht 01.09.2010.
- 3Brian Massumi, A user’s guide to Capitalism and Schizophrenia. Deviations from Deleuze and Guattari, Cambridge (Mass.), London (The MIT Press) 1992.
- 4Brian Massumi, The Bleed: Where the Body meets Image, in: John C. Welchman (Hg.), Rethinking Borders, Minneapolis, London (University of Minnesota Press) 1996, 29.
- 5Vgl. Hertha Sturm u.a. (Hg.): Wie Kinder mit dem Fernsehen umgehen, Stuttgart (Klett-Cotta) 1979; dies., Wahrnehmung und Fernsehen: die fehlende Halbsekunde, in: Media Perspektiven,1984, Heft 1, 58-65.
- 6Daher möglicherweise unbewusst folgerichtig, dass die erste Nummer der Zeitschrift des IKKM Weimar dem Thema der «Angst» gewidmet war. Die Angst wurde dabei als ein «unheimliches Grenzwesen» untersucht, das sich medientechnisch immer wieder aufs Neue speist, Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 2009, Heft 0.
- 7Brian Massumi (Hg.), The Politics of Everyday Fear, Minneapolis, London (University of Minnesota Press) 1993.
- 8Die Buchpräsentation fand am 21. August 2010 im Rahmen der ISEA 2010 im Pakt Zollverein in Essen statt.
- 9Dieses Interview ist 2003 unter dem Titel «Navigating Moments» in der Zeitschrift 21C Magazine erschienen.
- 10Eine verkürzte Version dieses Interviews findet sich in Joke Brouwer and Arjen Muller (Hg.), Interact or Die, Rotterdam (NAi Publishers) 2007, 70-97.
- 11Daniel Stern, The Interpersonal World of the Infant, New York (Basic Books) 1985.
- 12Susanne Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/M. (Fischer) 1965.
- 13Isabelle Stengers, Spekulativer Konstruktivismus, Berlin (Merve) 2008.
- 14Vgl. z.B. Steven Shaviro, Without Criteria. Kant, Whitehead, Deleuze, and Aesthetics, Cambridge (Mass.), London (MIT Press) 2009.
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