Trauermauer zwischen den Geschlechtern
Konstanze Hanitzsch über Alter, Zeit und die Verkörperung feministischer Geschichte
Vor kurzem lud ich Sonja Eismann und Nadine Kegele zu einer Lesung und einem Gespräch nach Göttingen ein. Im Zuge dessen habe ich Maxie Wanders Buch Guten Morgen, Du Schöne einmal wieder vom Bücherregal geholt, wo es seit meinem Studienbeginn der Gender Studies sein Dasein fristete. Denn Kegeles neues Buch Lieben muss man unfrisiert. Protokolle nach Tonband bezieht sich direkt auf Maxie Wander: «40 Jahre nach Maxie Wanders ‹Guten Morgen, du Schöne› legt Nadine Kegele ihre Neubefragung vor», heißt in der Beschreibung des Buches. «In 18 Stücken moderner Protokoll-Literatur erzählen 19 Frauen und Transgender zwischen 16 und 92 Jahren ungeschönt und mit viel Humor aus ihrem Leben.»
Ich habe nunmehr beide Bücher gelesen und fühle mich quasi selbst historisch dabei werdend, da ich heute so alt bin wie Wanders Guten Morgen, du Schöne, einen Tick älter sogar. Meine Zeitgenossi*nnen (ich schreibe wie Kegele mit Sternchen, um Geschlecht nicht immer wieder erneut festzuschreiben) sind die von Kegele. Doch in die (Lebens-)Geschichten dieser hinein reichen die (Lebens-)Geschichten der Frauen, die Wander interviewte. Und meine losen Enden wabern wohl irgendwo dazwischen – wie die von vielen anderen auch.
Wanders Berichte sind schwer und melancholisch; oft, weil die Frauen berichten, was sie gerne hätten, aber was aus irgendwelchen Gründen nicht für sie bestimmt sei: ein Orgasmus, eine lesbische Liebe, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Arbeit und Familie… Sehr bedrückend auch das Weiterleben der Mutter in der Tochter – das manchmal reflektiert wird, manchmal nicht.
In der Auseinandersetzung mit aktivistischem Feminismus, aber auch im Hinblick auf die Anfänge der Gender Studies in Deutschland kommt Wanders Buch einem archäologischem Fund der Frauen- und Geschlechterforschung gleich. Denn insbesondere die Trauermauer zwischen den Geschlechtern, die Wander hier beschreibt, zeugt von Ungerechtigkeit, Gewalt und Stagnation. Die Sprachlosigkeit zwischen den Geschlechtern, die Kluft zwischen Mann und Frau, getragen von der Haltung «Das ist eben so» oder auch «Das muss nicht so sein, aber wie kann es geändert werden?» erzählt von den Gründen und den Anfängen der zweiten Frauenbewegung.
Demgegenüber erscheinen die Frauen* in Kegeles Bericht als selbstbewusst ein eigenes Leben lebend. Die Trauermauer zwischen den Geschlechtern findet sich nicht mehr hauptsächlich in den Nahbeziehungen, sondern ist ein wenig weiter weg gerückt.
Im Vorwort von Marlene Streeruwitz zu Lieben muss man unfrisiert heißt es: «Macht begründet sich aus einer Geschichtsschreibung, die alle Ereignisse als logische Folge aus einem einzigen Ursprung aneinanderfügt» (Kegele 2017, S. 19). Die Frauen- und Geschlechterforschung suchte nach den fehlenden Geschichten und fügte sie in die Geschichtsschreibung ein, forderte darüber hinaus aber auch die Einbeziehung von Brüchen und Leerstellen in die Geschichtsschreibung, in die Forschung an sich.
«Der Einspruch gegen die Norm der Geschichtsschreibung müsste […] in jedem Leben einzeln erhoben werden, um die Vielfältigkeit zur Existenz zu bringen. Die Geschichtsschreibung selbst müsste so aussehen, wie das in den ‹Protokollen nach Tonband› der Fall ist. Jede kommt zu Wort», heißt es am Ende des Vorwortes von Streeruwitz.
Die Verkörperung von Geschichte in jedem einzelnen Menschen und die gleichzeitige Historisierung, die dem Bezug auf den Feminismus, der Geschlechterforschung, der Emanzipation bzw. emanzipatorischer Wissenschaft der Befreiung bzw. der Veränderung dient, erfolgt u.a. in und durch solche Texte wie die von Kegele und Wander.
Das Besondere an Kegeles Buch ist dabei, dass es auf Maxie Wander direkt rekurriert und damit nicht allein sich heute situiert, sondern auf die Anfänge der zweiten Frauenbewegung Bezug nimmt, u.a. indem es mit einem (fiktiven) Interview mit Maxie Wander beginnt:
«Weißt Du, sage ich, […] dass viele Menschen nach deinem Buch anfingen, ihr Leben zu verändern? Das ist gut, sagst du, denn ich finde nichts so schäbig, als wenn Menschen dasitzen und warten, bis etwas geschieht» (Kegele 2017, S. 16).
Bei Wander berichtet Rosi, Sekretärin, über ihren neuen Chef: «Ein Theoretiker, frisch von der Hochschule, voller Rosinen. Mich nimmt er nicht ernst, weil ich so blöde praktisch bin und mich auf Erfahrungen verlasse. Männer haben eben einen weitreichenden Verstand, und Frauen sind für die praktischen Dinge zuständig. Das ist vielleicht ein Affe!» (Wander 1977, S. 35) – zeitlos leider, denke ich bei der Lektüre.
Wo stehe ich da mit meinen 42 Jahren? Wohl genau dazwischen bzw. hinein verwoben in die west- und ostdeutsche Nachkriegsgeschichte, die Geschichte des Feminismus, die auch eine war, die sich mit der Täterschaft von Frauen auseinandersetzte (Thürmer-Rohr) und die Entstehung der universitären Auseinandersetzung mit (nicht nur) geschlechtlicher (Un-)gleichheit.
Barbara berichtet bei Maxie Wander: «Was ich gern machen möchte, ist Fliegen. Im Traum bin ich schon viel geflogen» (Wander 1977, S. 63). Und Angela schreibt: «Freunde? Ich glaube schon, dass ich Freunde habe. Bloß, ich beanspruche sie nicht» (ebd. S. 111).
Es ist traurig zu lesen, traurig sich daran zu erinnern, wie viele Leben unglücklich gelebt wurden (und werden). Obwohl es auch schon 1977 Gegenbeispiele gibt, z.B. eben auch jene Rosi, die auch zu Protokoll gibt: «Ich gehöre nicht zu den Frauen, die sich einbilden, nur mit einem Mann glücklich sein zu können. Ich treffe ständig Männer, die mir gefallen und denen ich gefalle» (ebd. S. 25).
Kegeles literarische Protokolle knüpfen sowohl dort an, wo es noch immer einen dumpfen Schleier des «Es ist eben so» zu lüften gilt, als auch dort, wo solche genannten Freiheiten weitergelebt werden.
War bei Maxie Wander das zaghafte Beschreiben einer homosexuellen Liebe unter Frauen neu und wichtig – «Karin ist eigentlich der erste Mensch, na, wie denn, der erste richtige Freund. Wenn einem das bewußt wird, das ist schön» (ebd. S. 52) – so kommen in Kegeles Buch trans* Personen zu Wort und Menschen, die in unserer
Gesellschaft behindert werden sowie Menschen, die ausscheren (ebd. S. 17). Eine dieser Personen ist Helen, die Kegele zu Protokoll gibt: «Regel werde ich nie eine haben, da haste Recht, aber ich bin ja auch schon in den Wechseljahren. Nee, ernsthaft, ich kann nicht behaupten, dass ich darüber traurig wäre» (Kegele 2017, S. 201).
Diese humorvolle Offenheit in Bezug auf Identität und Körperlichkeit ist ein Schatz, der über die Jahrzehnte gehoben wurde und den es zu bewahren gilt.
Nadine Kegele tut dies.
Ich habe mich gefragt, ob es in dieser Form auch möglich wäre, Gesprächsprotokolle mit Männern* durchzuführen. Das wäre ein schönes Experiment.
Am Ende möchte ich diesbezüglich auf das Buch einer anderen österreichischen Autorin zu sprechen kommen. In Ingeborg Bachmanns Malina, das nach dem Tod der Autorin 1971 erschien, verschwindet am Ende das weibliche Ich in einem Riss in der Wand, während das männliche Ich Malina überlebt.
Vielleicht könnten sich ja Mann* und Frau* aus dem Riss in der Trauermauer zwischen den Geschlechtern hervortretend miteinander aussprechen, besprechen…
-----------
Literatur:
Nadine Kegele, Lieben muss man unfrisiert. Protokolle nach Tonband, Wien (Kremaye/scheriau) 2017
Maxie Wander, Guten Morgen, du Schöne, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2007
Ingeborg Bachmann, Malina, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1971
Bevorzugte Zitationsweise
Die Open-Access-Veröffentlichung erfolgt unter der Creative Commons-Lizenz CC BY-SA 4.0 DE.