Pluralities: Scholar-led publishing und Open Access
Zur Rolle von scholar-led publishing in den Geistes- und Sozialwissenschaften (Teil 1)
Publikationskulturen sind im Wissenschaftsbetrieb ähnlich vielfältig wie die ihnen zugrundeliegenden Forschungskulturen. Im heutzutage oftmals normativ geführten Diskurs um Open Access besteht die Gefahr, dass diese Vielfalt zugunsten techno-solutionistischer Implementationen ins Hintertreffen gerät oder gar mittelfristig verloren geht. Im Folgenden möchte ich daher näher auf den Ansatz des scholar-led publishing eingehen und aufzeigen, welche Zusammenhänge zwischen scholar-led Initiativen und der ‹klassischen› Open Access-Bewegung bestehen.
Dazu beginne ich mit einer kurzen Diskurseinordnung und leite dann diachron ab, wie scholar-led Initiativen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften – und mit ihnen aus den Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaften – schon früh und parallel zu den weithin rezipierten Entwicklungen aus dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Bereich der 1990er Jahre auf eigene Weise wichtige Impulse zur Öffnung von Publikationskulturen setzten. Im zweiten Teil stelle ich dazu ein Spektrum von scholar-led Journal-Initiativen vor, während der dritte Teil sich scholar-led Buchverlagen sowie scholar-led Netzwerken im weiteren Sinn zuwendet.
scholar-led & Open Access: Genealogien im digitalen Raum
Einleitend sei zu erwähnen, dass im Folgenden sowohl Open Access als auch scholar-led publishing im Sinne von Samuel Moore als boundary objects verstanden werden. Moore überträgt Susan Leigh Stars und James Griesemers Konzeption des boundary object (1989) als «concept that has a specific understanding in a local community of practice but is rigid enough to maintain its definition across communities» in den Open Access-Kontext und zeigt auf, dass die oftmals im Diskurs als einheitlich dargestellte ‹Bewegung› um Open Access tatsächlich eine Vielzahl verschiedener Ursprünge, damit einhergehender Motivationen, sowie daraus resultierender, variierender Interpretationen und sich entwickelnder Praktiken in sich trägt. Moore nennt hier bspw. Einflüsse «from the formalising of pre-existing preprint cultures via subject repositories and the emergence of institutional repositories, to the free culture and open-source software movements» und konstatiert zusammenfassend, dass der Minimalkonsens zwischen den einzelnen Open Access-Strömungen wohl darin bestehe, dass Forschungs-Outputs in irgendeiner Art frei zugänglich im Web verfügbar gemacht werden sollen.
Zum Begriff ‹scholar-led›
Als einer der wichtigen Einflüsse, deren Ursprünge, Motivationen und Praktiken später auch in der Open Access-Bewegung wiederkehren, kann hier zudem insbesondere der des unabhängigen scholar-led publishing gesehen werden. Mit dem Adjektiv scholar-led (oftmals auch academic-led 1) werden hier Initiativen bezeichnet, die in verschiedenen Ausprägungen der Wissenschaftskommunikation primär durch im Wissenschaftsbetrieb beschäftigte Personen in ihrer Freizeit neben oder im Kontext ihrer Hauptanstellung im Wissenschaftssystem betrieben werden. In konstruktiv-integrativ gedachter Konnotation schließt scholar-led hier neben Forschenden mit institutioneller Anbindung auch explizit Forschende ohne Affiliation sowie weitere im Wissenschaftsbetrieb tätige Personengruppen, z.B. Lehrende, Bibliothekar_innen, Mitarbeitende aus wissenschaftsunterstützenden Bereichen (Projektkoordination, e-Learning, IT, etc.), als auch Studierende in höheren Semestern mit ein.
Während scholar-led in diesem Beitrag primär als neutral-deskriptives Adjektiv gedacht ist, kann festgehalten werden, dass sich zahlreiche scholar-led Initiativen und unabhängige scholar-led Verlage im Handlungs- und Wertesystem sowie in ihrer Arbeits- und Organisationsweise als Alternativen insbesondere zu vollprofessionalisierten, kommerziell agierenden und auf Gewinnmaximierung angelegten ‹klassischen› Verlagen positionieren. im Kontrast zu ‹klassischen› Verlagen legen scholar-led Projekte, Initiativen und Verlage den Tätigkeitsfokus zumeist auf den Akt eines von neoliberal-kapitalistischen Marktlogiken weitgehend entkoppelten ‹esoterischen› 2 Publizierens. Zudem muss einschränkend notiert werden, dass im Folgenden nicht weiter auf den Bereich von formalisierten wissenschaftsgeleiteten Organisationen in Form wiss. Gesellschaften, Verbünden und Akademien eingegangen wird, und auch Universitätsverlage fallen nicht unter das in diesem Beitrag angelegte Raster, da diese Organisationsformen anderen Gegebenheiten und Dynamiken unterliegen, als dies für das unabhängig agierende scholar-led Publikationswesen der Fall ist.
Wie beispielsweise von Gary Hall skizziert, formen die weiter oben grob dargelegten Abstammungslinien gerade im Hinblick auf die zugrundeliegende Pluralität der fachspezifischen Publikationskulturen nicht einen einheitlichen Wertekanon – vielmehr können unter dem Begriff boundary object Open Access eben durchaus ambivalente und zum Teil konträre Positionen Raum finden. 3 Und so bin ich in Halls Sinne daran interessiert, mit diesem Beitrag vom primär an den Medizin- und Naturwissenschaften orientierenden normativen Diskurs um Open Access wegzukommen, der sich insbesondere auf Ebene von Policy- und Forschungsförderinstitutionen 4 manifestiert. Vielmehr möchte ich die Perspektive hin zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit den zahlreichen, unter dem Dach von Open Access existierenden Strömungen weiten – und dabei insbesondere den Beitrag, den scholar-led publishing hier seit Jahrzehnten leistet, in den Fokus zu nehmen.
Perspektiven auf Open Access
Wenn wir einen Blick auf das heutzutage weit verbreitete Narrativ zur Geschichte von Open Access werfen, wird schnell deutlich, dass diese Geschichte primär anhand angloamerikanisch-orientierter Meilensteine aus den Naturwissenschaften erzählt wird. So wird beispielsweise «in der Regel die Preprint-Kultur der Science-Technology-Medicine (STM)-Fächer», insbesondere Paul Ginspargs Entwicklung des ArXiv-Servers, weithin als technische und publikationskulturelle Grundlage von Open Access gesehen.
Dies mag zutreffen, wenn man Open Access in einer engen Lesart bspw. auf technischer Ebene durch den sog. «Grünen» oder «Goldenen Weg» (also laut Budapest Open Access Initiative (BOAI) die freie Verfügbarmachung durch Repositorien oder direkt mittels eines entsprechenden Journals) definiert sieht, Preprints der eigenen Publikationskultur zugehörig sind, und andere Publikationsformen wie die in den Geistes- und Sozialwissenschaften enorm wichtige Langform (bspw. eigenständige Monographien) nicht näher betrachtet werden. Wie jedoch bspw. Laporte und Franssen & Wouters gezeigt haben, sind quantitativ- und output-orientierte Ansätze wie Preprints 5 oder Bibliometrie 6 auch knapp drei Jahrzehnte nach ihrer Einführung noch weit von einer flächendeckenden Akzeptanz in den Geisteswissenschaften entfernt. Und Aspekte von Bibliodiversität wie bswp. regionale 7 sowie disziplinspezifische Perspektiven spielen in der vorherrschenden Lesart von Open Access immer noch eine deutlich untergeordnete Rolle.
Hinzu kommt die starke Einflussnahme großer kommerzieller Verlage auf den «Goldenen Weg», welche während der vergangenen 20 Jahre erfolgreich eine semantische Verengung hin zu einer in der Breite vorherrschenden Realisierung durch von Autor_innen finanzierten Bezahlmodellen erwirkt haben. Diese heute weithin praktizierte Lesart von Gold OA, gepaart mit dem Aufkommen sog. «Transformative Agreements», welche ihre eigenen negativen Konsequenzen für die Geistes- und Sozialwissenschaften und die dort vorherrschende Pluralität und Bibliodiversität haben, führt dazu, dass Open Access auch nach dem diesjährigen 20. Geburtstag der BOAI in den Geistes- und Sozialwissenschaften weiterhin kritisch beäugt wird. 8
Alternative Genealogien 9 zeigen im Detail auf, dass jenseits dieses Narrativs zahlreiche Perspektiven existieren, die die pluralistische Vielfalt von Publikationskulturen auch im Kontext Open Access widerspiegeln. Der im Folgenden dargestellte interaktive Zeitstrahl kann hier vielleicht als erste vereinfachte Visualisierung der Komplexität der Zusammenhänge der unterschiedlichen Strömungen zu digitaler Openness (sowohl geographisch als auch zwischen den unterschiedlichen Fachkulturen) dienen.
Im zweiten und dritten Teil dieses Beitrags werde ich etwas detaillierter auf die diachrone Entwicklung speziell von scholar-led Projekte und Initiativen eingehen und dabei den Bogen von den 1970ern über die frühen 2000er Jahre bis hin zu einem Spektrum aktueller scholar-led Initiativen spannen.
Eine erweiterte Auswahl von für die drei Teile dieses Beitrags relevanter Literatur ist in der offenen Zotero-Collection “scholar-led publishing” zur eigenen Weiternutzung verfügbar.
- 1Siehe dazu auch Adema und Stone, Changing Publishing Ecologies, 2016.
- 2Im Sinne von Stevan Harnads subversive proposal (1994), in welchem Harnad scholarship im Kern als ‹esoteric› im Sinne von ‹von einigen Wenigen für einige Wenige produziert› beschreibt, also jenseits von neoliberal-kapitalistischer Marktlogik existierend.
- 3Gary Hall: Digitize This Book!: The Politics of New Media, or Why We Need Open Access Now, Minneapolis 2008 (Electronic Mediations 24). 105ff. Siehe hier auch Halls Ausarbeitung von Charakteristiken unterschiedlicher Open Access-Lesarten, die er in «liberal, democratising», «renewed public sphere», und «gift economy» -Ansätze unterteilt. Ebd.108ff.
- 4Siehe bspw. den europäischen Fokus auf die empirisch-quantitativ orientierte «Open Science» sowohl auf Förder- als auch auf Policy-Ebene (European Commission, Horizon Europe, Plan S & Coalition S), als auch nationale Bestrebungen wie das deutsche Projekt DEAL, oder der niederländische National Plan Open Science, sowie der französische Second National Plan Open Science. Zahlreiche Stimmen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften kritisieren mittlerweile deren einseitige Orientierung an medizinisch-naturwissenschaftlichen Publikationskulturen sowie der damit einhergehenden Fortschreibung des etablierten neoliberal-marktökonomischen Publikationssystems (Eve 2013, Aguado-López & Becerill-Garcia 2019, Kember 2014, Kamerlin et. al. 2021, Moore 2021, Knöchelmann 2021, Cabrerizo 2022).
- 5«possibilities [of preprints] remain largely unexplored in the humanities.» (Laporte 2016)
- 6«[...] the humanities are a dominated ‘other’ to the ideal-typical research and publication practices of other scientific domains. It is therefore not surprising that bibliometricians have not been met with a lot of enthusiasm amongst humanities scholars (e.g. Dehue, 2000; Kiefer, 2014). There is indeed little reason to be supportive of bibliometric efforts from a humanities perspective.» (Franssen & Wouters, 2017, p. 18)
- 7Siehe hierzu einführend bspw. Arianna Becerril-García, Eduardo Aguado-López: The End of a Centralized Open Access Project and the Beginning of a Community-Based Sustainable Infrastructure for Latin America: Redalyc.org after Fifteen Years The Open Access ecosystem in Latin America, 2018, sowie Reggie Raju, Jill Claassen: Open Access: From Hope to Betrayal, in: College & Research Libraries News, Bd. 83, Nr. 4, 2022, 161.
- 8Für eine weitergehende Diskussion der Frage, wieso die Adaption von Open Access in den Geistes- und Sozialwissenschaften schleppend verläuft, siehe bspw. auch Adema and Hall: The Political Nature of the Book: On Artists’ Books and Radical Open Access, in: New Formations, Bd. 78, Nr. 1, 2013, 138–156.
- 9Bspw. Adema (2015, insb. S. 142ff.; 2021), Moore (2017, 2019), Kiesewetter (2020), oder Tennant et al. (2019).
Bevorzugte Zitationsweise
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