«Krass dringende Nachricht an euch alle.»
Über die Corona-Krise und Gerüchte-Pandemie
Ein Beitrag geteilt von Zara (@zara_secret) am Mär 15, 2020 um 10:38 PDT
«Krass dringende Nachricht an euch alle: Ich habe gerade die neuesten Infos über den Coronavirus und es kommt auch aus ner richtig, richtig sicheren Quelle, Leute, da könnt ihr mir definitiv vertrauen. Und zwar hab ich nämlich gerade mit meiner Mutter telefoniert, und von ihr die Freundin dessen Tochter arbeitet nämlich in einem Unternehmen, die hat mit dem Chef von ihr gesprochen, der bestätigt hat, dass von ihm der Sohn dessen Freund in einem Fußballverein spielt, wo alle dort, die da mitspielen, auch bestätigt haben, dass der eine aus dem Verein, dessen Cousin aus Österreich nämlich in der Schule mit seinem Lehrer geredet hat, dass der Sohn von dem Lehrer, dessen Freundin in der Uniklinik arbeitet, dort nämlich an 'ner Studie teilgenommen hat und die Ergebnisse von einer Kollegin dessen, eh, Schwiegermutter, genau, ja die Schwiegermutter war das, auch bestätigt hat, dass die von der Forschungsarbeit herausgefunden haben, dass die Situation ernst ist und wir dringend Klopapier kaufen sollen. Deswegen: kauft Klopapier.»
Die «krass dringende Nachricht», die ich hier im Dienste medienwissenschaftlicher Diskursbeobachtung weiterverbreite, kommt von einer Frau mit dem sprechenden User-Namen «zara_secret». Mit 58.000 Abonnent_innen auf Instagram kann sie wohl als «Influencerin» gelten, auch wenn sie sich in diesem Post eher als A Woman Under the Influence 1präsentiert, die sich unter dem Einfluss eines Gerüchts selbst zum Medium seiner Weitergabe macht (wie man das Frauen eben traditionell gerne nachsagt) – unter Aufbietung der typischen Ingredenzien dieser eigentümlichen kommunikativen Gattung: Da ist die eher unübersichtliche Verkettung von Informant_innen, die die Logik des Hörensagens kennzeichnet, aber auch die «richtig richtig sichere Quelle», also der angebliche Ursprung der Information, der hier zu einer Studie einer – nein: «der» – Uniklinik führt. Womit nicht zuletzt die Autorität von Expert_innen ins Spiel kommt, die als vermeintliche Urheber der Botschaft für ihre Beglaubigung herhalten müssen.
Schon klar, dass es sich hier um eine Parodie handelt – obwohl: offenbar nicht so klar, dass es diesbezüglich nicht Missverständnisse gegeben hätte, wie diverse besserwisserische bis entsetzte Reaktionen auf den Clip in den sozialen Netzwerken dokumentieren. Parodiert wird hier aber nicht nur das leichtgläubige Weitersagen von Fake News im Allgemeinen und das massenhafte Weiterleiten der berüchtigten WhatsApp-Sprachbotschaft von «Elisabeth, der Mutter von Poldi» im Besonderen, mit der vor der Verschlimmerung der Corona-Infektion durch die Einnahme von Ibuprofen gewarnt wurde, die die Wiener Uniklinik festgestellt habe. Was durch die verzerrte Nachahmung hindurch ebenfalls erkennbar ist, ist die digitale Wichtigtuerei mit vermeintlichem Wissensvorsprüngen und guten Ratschlägen – womit die Parodie nicht zuletzt auf die Sozialfigur des Influencers daselbst abzielt, dessen Bezeichnung unter dem Vorzeichen der Corona-Pandemie erst recht eigentümlich zu changieren begonnen hat (Stichwort «Influencer-Influenza»).2 Influencer_innen, das sind schließlich jene Akteure der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie, deren Erfolg sich an maximaler Ausbreitung ihrer Posts bemisst, welche im besten Fall eben ‹viral gehen›. Exponentielle Verbreitung ist hier solange ausdrücklich erwünscht, wie es sich nicht gerade um Falschmeldungen handelt.
Im Unterschied zu Expert_innen für richtige Viren und auch zu upliftenden Influencer_innen sind nun Medienwissenschaftler_innen, die offensichtliche Witze erklären oder über «das Corona-Virus als Metapher» schwadronieren, vielleicht nicht, was die Welt gerade am dringendsten braucht.3 Aber da unter Bedingungen von social distancing die gute alte Feststellung, dass das, was wir von eben dieser Welt wissen, mittels Medien zu uns kommt, umso mehr zutrifft, kann das Nachdenken über – im weitesten Sinne – Übertragungsprozesse vielleicht doch noch als halbwegs ‹systemrelevante› Tätigkeit durchgehen. Das implizite Wissen des Clips von zara_secret um die gemeinsamen Eigenschaften von Gerüchten und ansteckenden Krankheiten bildet diesbezüglich einen interessanten Ausgangspunkt, scheint sich doch hier zu bestätigen, was der sogenannte Volksmund schon längst über Gerüchte weiß: dass sie ‹in der Luft liegen›, ‹grassieren›, ‹sich in Windeseile verbreiten›, ‹schwer einzudämmen› oder ‹auszurotten› sind. (Apropos Wissenschaft vs. ‹die Leute›: Zara «graduated in psychology and management», wie es in ihrer Profilbeschreibung heißt – es ist also offenbar ein bisschen class drag im Spiel, wenn «der Coronavirus» hier den Anlass für eine «krass» dringende Nachricht abgibt.)
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Was hat es also gerade – im Zeichen von Corona-Krise, Fake-News und (dem dadurch mitausgelösten) Klopapiermangel – auf sich mit dem Ruf des Gerüchts als einer kommunikativen Seuche?4 Wie immer empfiehlt es sich – auch und erst recht in der allerorten schnelle Reaktionen legitimierenden Krise (von krínein: trennen, unter-/scheiden) – sich die Zeit für ein paar Unterscheidungen zu nehmen: Auch wenn beide derzeit gerne in einem Atemzug – oder einem gemeinsam Slogan zu ihrer ‹Bekämpfung› – genannt werden, unterscheidet sich das Gerücht von der Fake News bzw. der Falschmeldung dadurch, dass es eben nicht notwendig falsch sein muss. Bei Gerüchten handelt es sich um unbestätigte Nachrichten,5 die sich durchaus ‹bewahrheiten› können. Als unbestätigte Nachrichten können sie sich zwar auch als Fehlinformationen erweisen; genau dann sind es aber auch keine Gerüchte mehr. Es ist paradoxerweise gerade diese Eigenschaft, ihr epistemisch unklarer Status, der dazu beiträgt, dass Gerüchte weitergegeben werden, ist das Weitersagen doch mitunter durchaus Teil einer kollektiven Aushandlung des Wahrheitswerts. Auch deshalb riskiert das Dementi, sich an der Weiterverbreitung zu beteiligen, wenn es nicht durch die entsprechende Autorität abgesichert ist – was Gerüchten am ehesten ein Ende bereiten kann, ist die Durchsetzung offizieller Informationen. Und was natürlich gar nicht hilft: wenn ausgerechnet das Bundesministerium für Gesundheit unter der Überschrift «Achtung Fake News» ein Dementi twittert, um dann gut 48 Stunden später genau das zu tun, was zuvor dementiert wurde (in diesem Fall: «massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen»).6
Mit dem Kriterium der Bestätigung ist aber genau die Frage danach aufgeworfen, wer oder was die Autorität sein könnte, die über den Wahrheitswert einer Nachricht entscheiden kann (und der Notwendigkeit, dass es eine solche gibt, trägt ja die Quellenangabe beim Gerücht noch dann Rechnung, wenn sie lediglich auf ein diffuses «man sagt» referiert). «Da könnt ihr mir definitiv vertrauen», heißt es im Clip von zara_secret, um mögliche Übertragungsverluste auf dem Weg von der «richtig, richtig sicheren Quelle» zur aktuellen Verlautbarung auszuschließen. Schon vorausgesetzt wird mit diesem Sprechakt aber die Bestätigungsmacht der wissenschaftlichen Forschung. Doch auch wenn mit Blick auf das politische Krisenmanagement der Corona-Pandemie hierzulande bereits die Tendenz einer Expertokratie von Männern in weißen Kitteln moniert wird, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es bei der aktuellen Situation mit einer veritablen Wissenskrise zu tun haben. Und der gute Ruf unseres Lieblingsvirologen Professor Drosten beruht ja wiederum auch auf dem Eingeständnis von Wissenslücken, das er sich gerade als Fachmann, für den sich die wissenschaftliche Community emphatisch verbürgt, leisten kann (wobei schon auffällig ist, wie viel mehr Anklang diese zeitgemäß softe Maskulinität in der medialen Berichterstattung findet im Vergleich zu anderen ‹Verkörperungen› von Expertise, etwa durch die Hamburger Virologin of color Marylyn Addo). Nicht obwohl, sondern gerade weil sich in der Nachrichtenverarbeitung im Zuge der Corona-Krise virologisches und epidemiologisches Fachwissen tagtäglich bewährt, bleibt die Unterscheidung zwischen dem Gerücht als unbestätigter Information von der ‹echten› Nachricht letztlich vom Vertrauen (hier: in diese Expertise und in die Medien ihrer Übertragung und Verbreitung) abhängig. Und auch in einer so drastischen Gesundheitskrise wie der aktuellen darf man daran erinnern, dass sogenannte Minderheitenmeinungen von Mediziner_innen nicht zu jedem Zeitpunkt der Seuchengeschichte zur Verharmlosung beigetragen und/oder rechten Verschwörungstheorien in die Hände gespielt haben. So hat z.B. der Schriftsteller Hubert Fichte die Berichterstattung über die AIDS-Krise zu einem Zeitpunkt, als man über Ursachen und Verbreitungsweisen zwar noch ‹nichts Genaues nicht wusste›, als ein Stimmengewirr dargestellt, bei dem es gute Gründe gab, statt auf die der Homophobie verdächtigen offiziellen medizinischen Instanzen lieber auf die überlebenswichtigen Informationen zu hören, die in den Klatschbörsen der Schwulenszene zirkulierten (oder eben auf bewährte Kompliz_innen in der Ärzteschaft).7
In der Forschung über Gerüchte wiederum weiß man, dass diese gerade in Wissenskrisen Konjunktur haben – in Kriegszeiten z.B. oder eben nach dem Ausbruch von Seuchen: Als «improvised news» sind Gerüchte gleichzeitig ebenso Symptome der Krise, wie sie als spontan emergierende Sofortmaßnahmen zu deren Bewältigung gelten können.8 So gesehen hat man es also bei der Gerüchtekommunikation eben nicht mit einer vermeidbaren ‹Krankheit› zu tun oder einer pathologischen Abweichung vom sprachlichen Normalfall, sondern einer gleichsam systemischen Unvermeidbarkeit.
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Eine solche Pathologie legen aber Begriffe wie die «infodemic» nahe, die bereits Anfang Februar von der WHO ausgerufen wurde,9 oder die Wortwahl des der Aufklärung von Falschmeldungen verpflichteten Recherchezentrum correctiv, das in einem Artikel über das Coronavirus kritisiert, «[w]ie das Robert-Koch-Institut die Gerüchte-Pandemie unterschätzt».10 Dass die Analogie von Gerücht und Pandemie bemüht wird, um der Notwendigkeit ihrer ‹Eindämmung› Nachdruck zu verleihen, hat nicht nur in Seuchenzeiten Tradition. So wurden 1942 in den USA unter der Ägide von Harvard-Psychologen sogenannte «Rumor Clinics» etabliert, ein Netzwerk von Zeitungskolumnen und Telefonzentralen, die an der ‹Immunisierung› der Öffentlichkeit gegen das «rumor virus» arbeiteten, von dem man eine Demoralisierung der Bevölkerung hinsichtlich des US-amerikanischen Kriegseinsatzes befürchtete.11
Nun wird zwar auf die Rhetorik der Ansteckung vor allem dann rekurriert, wenn Gerüchte abgewehrt, kontrolliert, entkräftet werden sollen. Schon ihre nicht völlig ironiefreie Verwendung im Fall der Rumor Clinics deutet aber darauf hin, dass die biologische Bildlichkeit nicht per se der Naturalisierung phobischer Projektionen und Feindbildkonstruktionen zuarbeitet, auch wenn der Kurzschluss des dieser Tage vielbeschworenen «Kriegs» gegen das Virus mit dem «Kampf» gegen Gerüchte und Fake News dies nahelegt. Es gibt ja durchaus gute Gründe für die Analogie, weil sich die Logiken der Ausbreitung und Multiplikation tatsächlich gleichen – man denke etwa an die verwischten Ursprünge (hier der Urheber der Nachricht, dort der patient zero) und die für die Modellierung der Zirkulationsdynamik maßgeblichen Etappen der Verkettung bzw. Vernetzung (Knotenpunkte, Infektionsherde). Auch deshalb kommen sogenannte epidemische Algorithmen außer in den Netzwerkmodellen der Informatik in Rekonstruktionen und Hochrechnungen von Kommunikations- und vor allem Marktforscher_innen zur Anwendung.
In diesem Kontext ist die Ambivalenz der Ansteckungsanalogie, die all jene Influencer_innen auskosten, die mit originellen Aufrufen zum Händewaschen oder Zuhausebleiben ihre Klickzahlen steigern, in nuce angelegt: Geht es in der Epidemiologie um Eindämmung und Regulierung («flatten the curve»), so ist umgekehrt den analog zur Infektion gedachten Modellen der Informationsverbreitung natürlich am maximal exponentiellen Ansteigen der Ansteckung gelegen. Dabei ist die Umcodierung der Ansteckungsgefahr zum Kommunikationsideal zwar keine Erfindung von Viral Marketing-Fachleuten (oder der Influencer_innen avant la lettre, deren Erfolgsstrategien diese sich anzueignen versuchen). Gerade das Virus hat, anders als weniger mit Smartness und der Unterwanderung asymmetrischer Machtverhältnisse assoziierte Mikroben (wie die «linke Bazille»), schon vor seiner metaphorischen Konjunktur im Social Media-Diskurs als Vorbild für Subversionsromantik fungiert. Außer in Hacker-Kreisen zirkulierte es auch im postmodernen Denken à la Derrida und Baudrillard oder in der «memetischen» Rückführung kommunikativer Prozesse auf evolutionsbiologische Muster, auf die wiederum zumindest die Bezeichnung von Internet-Memes zurückgeht.
Dabei ist es nicht zuletzt die Idee der ‹Übertragung›, die solche Kurzschlüsse zwischen Biologie und Informationstechnologie begünstigt – handelt es sich dabei doch um eine zentrale medientheoretische Kategorie, für die ‹Ansteckung› als Vorstellungsfigur vorzugsweise dann bemüht wird, wenn man sich über die genauen Prozesse der Vermittlung gerade nicht im Klaren ist (dass sich mittels Metapher wiederum etwas ‹im übertragenen Sinne› ausdrücken lässt, sei hier ausgeklammert). Malcolm Gladwell z.B. hat in seinem vielbeachteten Buch The Tipping Point so unterschiedliche Übertragungsphänomene wie das Gähnen, «word-of-mouth epidemics» und digital verbreitete Hypes auf den gemeinsamen Nenner der «contagiousness» gebracht: «Ideas and products and messages and behaviours spread just like viruses do.»12 Dabei handelte es sich auch schon im Jahr 2000 bereits um die Reaktualisierung eines sehr viel älteren Vorstellungskomplexes, hatte doch bereits Gustave LeBon in seiner 1895 erschienenen Psychologie der Massen die «contagion mentale» sowohl als Präsenzeffekt bei großen Menschenansammlungen (etwa im Fall von Massenpaniken) wie als medienvermittelte Angelegenheit (etwa im Fall von historischer Legendenbildung) beschrieben.13 Der Rekurs auf die Bildlichkeit der Ansteckung dient hier gerade nicht der Erklärung unverstandener Übertragungsverhältnisse, sondern ihrer Pseudo-Plausibilisierung.14 So wird nicht nur der Unterschied zwischen amedialer und technisch vermittelter Übertragung kassiert, sondern auch die zugegebenermaßen herausfordernde Aufgabe umgangen, die Netzwerke und Assemblagen aus Menschen, Medien, Informationen, Imaginationen und Affekten, die das exponentielle Wachstum bestimmter Ansichten und Artefakte begünstigen, als solche zu untersuchen. Entsprechend wurde die Bezeichnung von im Netz zirkulierenden Inhalten als viral zurecht dafür kritisiert, dass die damit assoziierte Selbstreplikation die Interventionen von Usern – und damit letztlich die ‹Mutationen› – ausklammere. Als Alternative hat das Team um den Fan- und Partizipationsforscher Henry Jenkins z.B. das Konzept der «spreadability» vorgeschlagen – allerdings wohl um des guten Slogans willen darauf verzichtet, sich der vitalistischen Anteile biomedizinischer Metaphorik und des darwinistischen Überlebenseifers der Dawkins’schen Memetik zu entledigen: «If it doesn’t spread, it’s dead».15
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Im Angesicht einer echten Pandemie, mit heftigen Konsequenzen auch für alle, die als Nicht-Infizierte (noch) nicht direkt betroffen sind, riskiert, wer sich der Bildlichkeit der Ansteckung für bloße Medienphänomene bedient, als geschmacklos oder zynisch ‹rüberzukommen› (um bei den diffusen, aber nicht zu leugnenden Übertragungsprozessen zu bleiben). Und tatsächlich scheinen mir diese Sprachbilder auch momentan nicht so hoch im Kurs zu stehen, wenn es nicht gerade um Corona-bedingte Gefahren für unser Kommunikationsverhalten geht und vom ‹Grassieren› der Desinformation oder davon, dass ‹nichts so ansteckend ist wie die Angst› die Rede ist. Zwar hat Comedian Stephen Colbert noch im Februar eine humorvolle Version des Kurzschlusses gewagt und das Segment über die Aktivitäten (oder Nicht-Aktivitäten) der Trump-Regierung seiner Late Show unter den Slogan «Goin’ Viral» gestellt (wie ich ein BA-Seminar über Medien der Ansteckung im letzten Semester) – aber das Kokettieren mit den positiven Konnotationen des Viralen hatte sich erledigt, als er ohne Publikum auftrat und erst recht, seit er von zu Hause agiert, also mit dem Verschärfen der Krise und ihrer spürbaren Folgen.
Über die aktuelle Situation hinaus ist aber vielleicht das größere Problem, das die Rhetorik der Ansteckung aufwirft, dass dadurch nichts erklärt und niemand aufgeklärt wird – vielmehr riskiert sie, sich an der Affektpolitik zu beteiligen, gegen die sie gerichtet ist. Gerade in einer Situation, die als ‹Kampf› oder ‹Krieg› gegen ein Virus oder eine Pandemie definiert wird, suggeriert die Pathologisierung unliebsamer Formen der Nachrichtenverarbeitung eine trügerische Eindeutigkeit. Denn Gerüchte kennzeichnet, dass sie eben auch dann nicht umstandslos als Falschinformation zu erkennen sind, wenn es sich um solche handelt – was nun einmal nicht notwendig der Fall ist. So wünschenswert es gerade sein mag, sich der Fake News über die Wirksamkeit von Knoblauch gegen eine Infektion mit dem Corona-Virus oder der Verschwörungstheorien über seine Herkunft in den Biowaffenlaboren des jeweiligen Lieblingsfeinds zu entledigen: Wenn derzeit insbesondere biomedizinische und epidemiologische Befunde die ‹Stunde der Exekutive› einläuten, empfiehlt es sich, mit Ansteckungs- und Seuchenmetaphern besonders vorsichtig umzugehen. Denn die radikalen Gegenmaßnahmen, die damit als quasi-medizinische Notwendigkeiten autorisiert werden, setzen nicht nur jene Unterscheidbarkeit von offiziellem Wissen und Minderheitenmeinung voraus, die in Wissenskrisen noch viel weniger gegeben ist als in Zeiten ohne besondere epistemische Vorkommnisse; sie blenden auch die Frage danach aus, wem die Macht zur Bestätigung von Informationen zukommt. Bekanntlich wird die Bezeichnung als Fake News eben nicht nur zutreffenderweise für den baren Unsinn verwendet, der sich im Netz oft so erstaunlich ungehindert von Plattformbetreibern verbreiten kann, sondern auch von Autokraten, die sich eben jenes Recht der Bestätigung anmaßen. Es ist kein Zufall, dass das unter Viktor Orbán vom ungarischen Parlament bewilligte Notstandsgesetz zur Eindämmung der Corona-Krise nicht nur für die «Behinderung der Epidemiebekämpfungsmaßnahmen», sondern auch für Verbreitung von «Falschnachrichten» bis zu fünf Jahren Gefängnis vorsieht – «Journalisten warnten deshalb vor einer Einschränkung der Pressefreiheit.»16
Selbstredend kann es mit der Skepsis gegenüber der Rede von der «Gerüchte-Pandemie» nicht darum gehen, das Engagement von Journalist_innen zu kritisieren, die in der Corona-Krise gegen Desinformation arbeiten. Und erst recht nicht um ein Plädoyer dafür, Gerüchte und Falschmeldungen als unvermeidbar hinzunehmen und ihre Kollateralschäden gleich mit – es ist natürlich zu begrüßen, dass jetzt alle möglichen Medien, die etwas auf sich halten, Faktencheck-Rubriken anbieten (jedenfalls wenn diese, wie tagesschau.de, auch Artikel enthalten, die die Notwendigkeit reflektieren, zwischen Gerücht und Fake News zu unterscheiden.17 Aber abgesehen davon, dass die Reinheitsvorstellungen und Ordnungsphantasien, die da sprachlich mittransportiert werden, einem vermeintlich alternativlosen Durchregieren zuarbeiten, wirkt auch die Tendenz, den sozialen Medien ständig ihre krankhafte Anfälligkeit für Desinformation zu spiegeln, in einer Zeit, wo connectedness gut tut wie nie, eher unangebracht. Besonders wohltuend: Parodien von exponentieller Ausbreitung, die die gemeinsamen Eigenschaften von Gerüchten und Pandemien aufrufen, ohne sie auszubuchstabieren. Und die den Klassismus, der sich in den ubiquitären Witzen über die doofen Klopapier-Hamster nicht übersehen lässt, umso besser zurückspiegeln, weil sie noch ein bisschen Migrationshintergrund drauflegen. Die sollen dann ruhig auch ‹viral› gehen.
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PS: Siehe auch: Kylie Brakeman, Why I won't wear a mask, 12.7.2020
- 1In Anspielung auf den Titel des Films von John Cassavetes mit Gena Rowlands (USA 1974).
- 2So der Titel einer schon 2018 von mir betreuten MA-Arbeit von Natalie Gries. Siehe auch Paul Elie, (Against) Virus as Metaphor, in: The New Yorker, 13.3.2020.
- 3And yes, that’s me talking... auch wenn ich als Mitherausgeberin diesen Sammelband zum Thema nicht für überholt halte: Ruth Mayer, Brigitte Weingart (Hg.), VIRUS! Mutationen einer Metapher, Bielefeld 2004. https://mediarep.org/handle/doc/14482
- 4Die folgenden Überlegungen gehen teilweise auf frühere Texte zurück, wo manche hier nur angedeuteten Argumente genauer ausgeführt und belegt werden; siehe vor allem: Brigitte Weingart, Ansteckende Wörter. Repräsentationen von AIDS, Frankfurt/M. 2002; Download PDF.
- 5Jean-Noël Kapferer, Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt, Leipzig 1996, S. 23 ff.
- 6Vgl. Andrej Reisin, Staatsräson als erste Medienpflicht?, in: ÜberMedien, 17.3.2020.
- 7Siehe dazu ausführlich Weingart, Ansteckende Wörter, S. 156 ff.
- 8Tamotsu Shibutani, Improvised News. A Sociological Study of Rumor, Indianopolis 1966.
- 9WHO, Novel Corona Virus (2019-nCoV) – Situation Report 13, 2.2.2020.
- 10Frederik Richter, Alice Echtermann, Till Eckert, Cristina Helberg, Coronavirus: Wie das Robert-Koch-Institut die Gerüchte-Pandemie unterschätzt, 2.4.2020.
- 11Vgl. Hans-Joachim Neubauer, Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin 1998, S. 176 ff.; Kapferer, Gerüchte, S. 311 ff. Zur Darstellung des Gerüchts als ansteckende Geisteskrankheit – inklusive Quarantänemaßnahmen – in dem an US-Soldaten adressierten Trickfilms Rumors (1943) aus der Serie Private Snafu siehe meinen Aufsatz «Rumoritis»: Zur Modellierung von Massenkommunikation als Epidemie, in: Jürgen Brokoff, Jürgen Fohrmann, Hedwig Pompe, Brigitte Weingart (Hg.), Die Kommunikation der Gerüchte, Göttingen: Wallstein, S. 278-299.
- 12Malcolm Gladwell, The Tipping Point. How Little Things Can Make a Big Difference, Boston 2000, S. 7.
- 13Und schon LeBon steht eher am Ende einer Konjunktur wissenschaftlicher Versuche, kollektive Mimesis als Ansteckung zu modellieren, im 19. Jahrhundert (Durkheim, Tarde, Sighele u.a.); die Belege für die Vorstellung kommunikativer Ansteckung reichen mindestens bis in die Diskurse über die spätmittelalterliche «Tanzwut» zurück.
- 14Fairerweise sei erwähnt, dass Gladwell mit der Popularisierung von informationsepidemiologischem Wissen durchaus zu konkreteren Befunden gelangt als es der zitierte, eher diffuse Gebrauch der Ansteckungsrhetorik nahelegt.
- 15Henry Jenkins, Sam Ford, Joshua Green, Spreadable Media: Creating Value and Meaning in a Networked Culture, New York: New York University Press 2013.
- 16kit/marti, Parlament billigt Orbáns Notstandsgesetz, in: Süddeutsche Zeitung, 30.3.2020.
- 17Patrick Gensing, Nicht jedes Gerücht ist eine Fake News, 18.3.2020.
Bevorzugte Zitationsweise
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