Kanonkritik in der Lehre umsetzen
Ein Bericht
Anlass
Im folgenden Text schildern wir unsere Eindrücke und Erfahrungen aus drei Seminaren, die wir jeweils im Wintersemester 2022/2023 in Bochum (Felix) und im Sommersemester 2023 in Braunschweig (Francis) und Hildesheim (Felix) gegeben haben. Unsere Überlegungen schließen dabei an die bereits geführten Diskussionen über Kanon und Kanonkritik an. Die Kurse hatten jeweils einen einführenden Charakter und legten den Fokus auf Film, Filmgeschichte(n) und Filmtheorien, jedoch mit einem kanonkritischen Ansatz, der stark von den Impulsen und Texten aus der ZfM Ausgabe X | Kein Lagebericht sowie dem Beitrag von Jiré Emine Gözen zu Kanones auf GAAAP_ The Blog geprägt waren. Für die Vorbereitung der Seminare waren wir bereits vor dem Sommersemester 2023 in Kontakt, um uns über unsere jeweiligen Konzeptionen der Kurse auszutauschen. Wir haben zudem auch während des Semesters über den Verlauf unserer Seminardiskussionen gesprochen. Aus diesem kontinuierlichen Austausch heraus entstand die Idee, unsere Erfahrungen schriftlich festzuhalten. Der Text stellt insofern eine Reflexion über die drei Seminare dar. Wir überlegen aus unserer Perspektive als Lehrende, wie wir unserem eigenen Anspruch, aber auch dem der Studierenden gerecht geworden sind, was gut funktioniert hat und wo wir auf Probleme gestoßen sind. Vor allem ist es uns wichtig, die Studierenden selbst zu Wort kommen zu lassen, die an den drei Seminaren teilgenommen haben. Dafür haben wir nach Ende des Semesters einen kleinen Fragenkatalog verschickt, auf den die Studierenden antworten konnten.1 Wir haben den Studierenden die Wahl gelassen, ob sie anonymisiert oder namentlich im Bericht genannt werden wollen. Letztlich haben sich fast alle für eine namentliche Nennung entschieden. Ihre Antworten und Reflektionen strukturieren im Folgenden den Textverlauf.
Vorerfahrungen
In allen drei Seminaren wollten wir zu Beginn herausfinden, was die Studierenden bewusst oder unbewusst für kanonisch halten – was sie also bisher gelesen und gesehen haben, und wie sie die Lektüre- und Sichtungserfahrungen einschätzen. Insofern spielte insbesondere die Frage, von welchem Wissensstand wir zu Beginn der Seminare ausgehen konnten, eine grundlegende Rolle.
In Braunschweig gibt es eine verpflichtende Propädeutik-Veranstaltung, ansonsten aber keine ‹klassische› Einführung in die Medienwissenschaften, die alle belegen müssen. Zu Beginn des Braunschweiger Seminars herrschte unter den Studierenden der Eindruck, dass sie bisher wenig mit ‹dem einen› medienwissenschaftlichen Kanon in Berührung gekommen waren, was im Umkehrschluss bedeutet, dass aber ein Wissen vorhanden sein muss, was/wie dieser Kanon auszusehen hätte. Mit Hilfe einer Wortwolke auf Basis der von den Studierenden bisher belegten, verschiedenen Einführungsveranstaltungen kam dann jedoch heraus, dass es einige Autor*innen gab, die über verschiedene Veranstaltungen hinweg gelesen wurden. Die Wortwolke hinterlässt insgesamt einen recht vielfältigen Eindruck, jedoch gibt es bei den mehrfach gelesenen Autor*innen gewisse Tendenzen in Richtung weißer, westlicher, männlicher Kanon.
Der Eindruck, dass bestimmte Autor*innen häufig gelesen werden und sich dadurch ein impliziter Kanon formiert, wird auch von Bochumer Studierenden geteilt:
Kanonisierungsprozesse wurden in meinem Medienwissenschaftsstudium zum ersten Mal in einem der propädeutischen Module erwähnt. In dem Fall ging es […] nicht um Kanones zu Filmen, sondern um die Auswahl an Autoren und Texten in der Medienwissenschaft, die uns auf den weiteren Studienverlauf vorbereiten sollten. Die, meiner Meinung nach, wichtigste Aussage war dabei, dass es bei diesem relativ jungen Studiengang schwierig sei, von einem Kanon zu sprechen bzw. auf einen zurückzugreifen. Wobei uns doch einige Autoren (bspw. F. Kittler, S. Eisenstein, W. Benjamin, M. McLuhan, ...) häufiger begegnen als andere.
(Hauke von der Linden, RUB)
Andere berichten, dass Kanonbildungsprozesse sehr wohl in den ersten Seminaren ihres Studiums angesprochen wurden. Doch es sei nur selten deutlich geworden, warum bestimmte Texte, Filme oder andere Gegenstände überhaupt einen ‹kanonischen› Status haben:
Im theorielastigen Teil [der Lehrveranstaltung] gab es dann einen Textkanon, im praktischen zusätzlich einen Filmkanon, der mir schon damals ziemlich ‹merkwürdig› vorkam, da sich mir nicht erschlossen hat, aus welchem Grund genau diese Filme ausgewählt wurden.
(Janina Rettig, RUB)
Einige Studierende vermuten außerdem, dass Kanonisierungsprozesse in den Medienwissenschaften grundsätzlich «viel unauffälliger [ablaufen] als in hard sciences» (Cornelis Becker, RUB) oder nicht so prominent in Erscheinung treten wie beispielsweise in literaturwissenschaftlich-philologischen Fächern, in denen «im Grunde in allen Kursen nur die Klassiker behandelt [werden]» (Jule Demski, RUB). Die Prägung, die von einem Strauß kanonischer Texte oder Filme in Einführungsveranstaltungen ausgeht, sei in jedem Fall nicht zu unterschätzen, denn: Entsprechende Listen haben einen massiven Einfluss «auf unsere Meinungen oder Interessensschwerpunkte in unserer weiteren (wissenschaftlichen) Laufbahn» (Amy Fox, RUB).
Mit Blick auf konkrete Filme, die Studierende als kanonisch einschätzen, ergab sich in Bochum und Hildesheim auf den ersten Blick ein überraschend vielfältiges Bild. Eine spielerische, nicht ganz ernst gemeinte Umfrage nach den ‹fünf wichtigsten Filmen aller Zeiten› förderte in Bochum ganze 93, in Hildesheim 65 unterschiedliche Titel zu Tage. Auffällig war, dass die wenigen Mehrfachnennungen vor allem populäre, jüngere Franchise-Filmreihen (sechsmal Lord of the Rings in Bochum) oder einzelne Werke bekannter Regisseure (fünfmal The Godfather in Hildesheim) betrafen. Was für gelesene Autor*innen gilt, trifft augenscheinlich also auch auf die Regisseure der häufig genannten Filme zu: Sie sind weiße Männer; ihre Filme entstanden vorwiegend in Westeuropa und den USA. Diese Tendenz beobachtet Adrian Martin auch typischen Rankings unter Filmkritiker*innen – und weist zusätzlich darauf hin, dass meistens nur narrative Spielfilme in den Listen auftauchen, die dann als zentrale ‹Meisterwerke› berühmter Regisseur*innen verstanden werden.1 Die Frage nach herausragenden Filmen produziert offenbar einen Kanon, der in puncto Filmemacher*innen, Geografie, Gattungen und Ästhetik ausgesprochen schmal ausfällt.
Zugleich deuten die Seminarumfragen aber auch eine zeitliche Verschiebung an. In Bochum waren nur neun der 93 genannten Filme älter als 1980. In Hildesheim gingen die Nennungen weiter zurück, doch auch hier dominierten Produktionen, die nach 1980 entstanden sind. Ähnliche Eindrücke ergaben sich in einer kürzeren mündlichen Umfrage in Braunschweig. Der populäre Kanon, der in den Umfragen zum Vorschein kam, ist in diesem Punkt keineswegs mit einem filmpublizistischen oder filmwissenschaftlichen Kanon deckungsgleich. Analog zur Frage, «wessen Kanon»2 die Universität eigentlich vermittelt, stellt sich deshalb auch die Frage, ‹für wen› dieser Kanon überhaupt ein Kanon ist. Im Grunde haben wir es nicht mit einem einzigen, sondern mit mindestens zwei Kanones zu tun, die auf unterschiedlichen Ebenen operieren, sich teilweise überschneiden, in bestimmten Aspekten aber auch deutlich auseinanderstreben.
Die Inhalte von einführenden Filmseminaren werden von den Studierenden daher zum einen als starke, wirkmächtige Setzung erlebt, zum anderen aber auch als Ausbildung eines zweiten, nunmehr akademischen Film- oder Textkanons, der sich von ihren bisherigen Filmerfahrungen abhebt:
[I]m ersten Semester ging es eigentlich schon los mit dem Seminar ‹Einführung in die Filmwissenschaft›. In diesem Seminar haben wir einige Texte besprochen, die sich mit ‹kanonischen› Filmemacher*Innen beschäftigt haben. Besonders hängen geblieben ist mir der Text von Godard über Montage/Schnitt, dessen Namen ich vor dem Studium noch nie gehört hatte, aber seit dem Studium ständig höre. Außerdem haben wir oft Ausschnitte aus ‹kanonischen› Filmen wie zum Beispiel Psycho und In the Mood for Love gesichtet und diese dann besprochen. Besonders auffällig war, dass keiner von den Teilnehmer*Innen jemals von dem Film In the Mood for Love oder dem Namen Wong Kar-wai gehört hatte, aber allen war bewusst, wer Hitchcock ist und welche Relevanz Psycho hat.
(Orkan Gülec, HBK)
Mitunter kommt es durch Seminarangebote auch zur Bildung von Schwerpunkten, die wie ein ‹lokaler› Kanon auf Studierende wirken können. Eine Studentin aus Hildesheim nennt als Beispiel die Beschäftigung mit dem frühen Kino:
Die Anfänge des Films habe ich immer wieder durchgenommen und dabei immer mit Blick auf den europäischen Film – ich kann gar nicht genau sagen, wo und wann es überhaupt sonst noch Film gab. Andererseits muss ich sagen, dass dieser Kanon des Studiums sich schon stark von dem abgegrenzt hat, was ich bis dahin geschaut habe, ich möchte es fast einen Gegenkanon nennen.
(Hannah Kielholt, Hildesheim)3
Frühes Kino wird als europäischer Film ausbuchstabiert, andere geografische Perspektiven auf die Anfänge des Films kamen in den entsprechenden Seminaren nicht vor.4 Trotzdem scheint uns wichtig zu erwähnen, dass die Beschäftigung mit frühen Filmen überhaupt als Abweichung von den gewohnten, eigenen Filmerfahrungen wahrgenommen wird.
Kanonkritisch arbeiten
Das Verhältnis eines hegemonialen Kanons zu einem hypothetischen ‹Gegenkanon›, die Möglichkeiten einer kritischen Befragung bestehender Kanones und ein genauer Blick auf das Zusammenwirken von kanonischen Texten und Filmen strukturierten die Seminare, die wir in Braunschweig, Bochum und Hildesheim unterrichtet haben. Dabei ließ sich im Verlauf der Seminare feststellen, dass darüber hinaus auch ein (Gegen-)Kanon der Studierenden gegenüber dem Kanon der Lehrenden existiert.
Das Seminar in Braunschweig hatte den Anspruch, einen Eindruck von Kanones zu vermitteln, der sowohl Texte als auch Filme aus der Filmwissenschaft einbezieht, diese aber auch kritisch einordnet. Die Frage, wie ich einen Kurs konzipieren kann, der einerseits eine Kritik am Kanon übt, aber andererseits nicht von einem Geheimwissen ausgeht, was dieser Kanon überhaupt ist, war dementsprechend besonders präsent. Schlussendlich strukturierte sich der Kurs aus vier größeren Blöcken à 3-4 Sitzungen: 1. Kanones in Medien- und Filmwissenschaft; 2. Kanonisierte Filme und Texte; 3. Kanonisierte kanonkritische Texte; 4. Kanonkritisches Arbeiten. Pro Sitzung wurden ein Text und ein Film besprochen, die teilweise in Differenz zueinander standen – bspw. als kanonisch und gegenkanonisch, oder aus unterschiedlichen Zeiten stammten, aber Aspekte des jeweiligen anderen Einzelmediums wieder aufgriffen.
Das Bochumer und das Hildesheimer Seminar waren stärker filmgeschichtlich ausgerichtet. Hier bestand gleichwohl ein ähnliches Ausgangsproblem wie in Braunschweig: Wie kann einerseits ein filmhistorischer Kanon vermittelt werden, zugleich aber auch eine kritische Perspektive auf diesen Kanon? Der Lösungsversuch war ein streng formaler: Beide Seminare waren in klare 10-Jahres-Abschnitte eingeteilt, im Fall von Hildesheim auch mit bewussten Lücken. Im Bochumer Seminar schauten wir pro Abschnitt zwei Filme, in Hildesheim einen Film.
In allen drei Seminaren hatten die Studierenden die Aufgabe, in Kleingruppen eine kanonkritische bzw. kanonsensible Filmliste zu kuratieren.
In diesen Gruppenarbeiten wiederholten sich bestimmte Probleme, die uns bereits bei der Erstellung unser eigenen Seminarpläne aufgefallen waren. Das betrifft etwa das Verhältnis zwischen potenziell kanonischen oder nicht-kanonischen oder sogar gegenkanonischen Filmen.
[Die] Auswahl [verweist] immer implizit auf das Nicht-Ausgewählte. Dabei haben auch wir in der Gruppe diskutiert, inwiefern Kanons eine vereinfachende Binarität erzeugen: Sorgt das Erstellen eines bloßen Gegenkanons ex negativo bloß für die Bestätigung, dass es einen ‚echten‘ Kanon geben würde?
(Tim Wetzer, RUB)
Die Gegenüberstellung von kanonischen oder nicht-kanonischen bzw. gezielt gegenkanonischen Filmen oder Texten produziert nicht nur eine Binarität, die einen (wie auch immer gestalteten) Kanon prinzipiell fortschreibt. Sie suggeriert auch eine Eindeutigkeit, die in konkreten Fällen mitunter gar nicht gegeben ist:
[Der] einzige Film aus einem nicht-westlichen Kontext war in unserem Fall ein Samurai-Film von Akira Kurosawa, auch ein weit rezipierter Regisseur und ein Film, der in Machart und Thema zumindest teilweise von westlichen Filmen inspiriert ist. Auch die Nouvelle Vague ist vielfach untersucht und kanonisiert, ähnliches gilt für Ingmar Bergman als Regisseur-Persönlichkeit, sowie popkulturelle Erzeugnisse wie Disney-Animationen, auch wenn die Machart des Films zumindest in unserem Seminar wenig repräsentiert war.
(Joah Kulms, RUB)
Deutlich werden hier zwei weitere Herausforderungen: Erstens entstanden einige Filme oder Texte, etwa die angesprochene Nouvelle Vague oder Laura Mulveys berühmter Visual-Pleasures-Aufsatz, historisch in einer Abgrenzung zu damals dominanten Theorieströmungen oder Filmformen, haben aber mittlerweile selbst kanonischen Status erreicht. Kanonizität ist dementsprechend dynamisch, nicht statisch – und abhängig von gesellschaftlichen Situierungen: «Es wird sich bemerkbar machen, ob zum Beispiel weiße heterosexuelle cis-Männer die für sie ‹besten› Filme auflisten, oder ob people of color, weiblich gelesene Personen und/oder Mitglieder der LGBTQ-Community dies tun» (Giona, RUB). Kanonkritisches Kuratieren muss sich zweitens auch zu unterschiedlichen repräsentationspolitischen Fragen verhalten. Dazu zählen ästhetische wie narrative, produktionslogistische wie geographische Überlegungen, ebenso die eigenen Identitäten der Filmemacher*innen. Einige Studierende berichten von verschiedenen Strategien, diese Abwägungen in eine ausgewogene Filmauswahl zu übersetzen:
Im Grunde haben wir uns überlegt, welche Diskriminierungskategorien es gibt und welche auf Kanonisierungsprozesse wirken. Anhand dieser "Vorauswahl" haben wir nach Filmen, Texten und Regisseur*innen gesucht, die diese Kategorien erfüllen. Tatsächlich war das ein komisches Gefühl, so bewusst mit Diskriminierungskategorien zu arbeiten und quasi abzuhaken.
(Janina Rettig, RUB)
Vielen Gruppen ging es wie uns als Lehrende: Mit begrenzten Listen lässt sich eine diverse Film- oder Textauswahl kaum zufriedenstellend realisieren. Notwendigerweise bleiben Leerstellen zurück, die bei einigen Studierenden zu Frustrationserlebnissen geführt haben: «Ich finde, es ist sehr schwer, wenn nicht sogar unmöglich, eine solche [kanonkritische] [Film]Liste wirklich zu erstellen. Es hat zwar sehr viel Spaß gemacht, […] aber am Ende war keiner von uns zufrieden, da doch immer etwas auf der Strecke bleibt» (Orkan Gülec, HBK).
Wir verstehen das Problem ‹ausgewogener› Listen rückblickend aber durchaus als Chance. Dass Listen selten zufriedenstellend ‹funktionieren›, lädt dazu ein, über andere Organisationsformen von Wissen nachzudenken, gemeinsam geteilte Texte und Filme möglicherweise ganz anders anzuordnen – und so möglicherweise auch zu einer «offenen Auffassung [zu gelangen], was ‹Kanon› eigentlich alles bedeuten kann» (Ina Diallo, Hildesheim). Wir kommen am Schluss des Textes noch einmal auf diesen Aspekt zurück.
Ein weiteres Ergebnis unserer Seminare bestand darin, dass ein Kanon zunächst Anhaltspunkte und Orientierungshilfen bieten kann. Deshalb hat er mitunter «etwas Beruhigendes an sich […]. Ein Kanon kann ein wenig „Ordnung“ in die große Weite des Films bringen» (Hannah Kielholt, Hildesheim). Diese Ordnung verspricht Zugänge zu einer gemeinsamen Wissensbasis, wie Jiré Emine Gözen5 und auch einige Studierende beobachten:
Die geteilten Informationen schafften tatsächlich ein gutes Fundament für das weiterführende Studium und führten sowohl in die Textlektüre als auch inhaltliche Grundlagen ein. Schließlich ist eine Form von Orientierung im Studium unabdingbar; und ein Kanon lässt sich nur kritisieren, wenn man ihn auch kennt.
(Joah Kulms, RUB)
Zugleich wird Kanonkenntnis aber auch von soziokulturellen Exklusionsmechanismen begleitet. Über Wissen von einem Kanon zu verfügen, bedeutet kulturelles Kapital, das innerhalb der Universität nicht gleich verteilt ist.
Ich denke im Nachhinein viel darüber nach, wie ich selber in Gesprächen mit Kanon umgehe. Ich bin bewusster damit, welche Filme ich referenziere und auf welche Weise. Unter Menschen, die sich mit Film befassen, wird schnell dazu tendiert, die paar großen Werke in Gesprächen hin und her zu werfen, und wer die dann nicht kennt, ist gleich raus aus dem Gespräch oder bekommt sie lehrend erklärt.
(Seza Tiara Selen, Hildesheim)
Das gilt im Übrigen auch für die Texte oder Filme, die als Opposition zu einem populären Kanon verhandelt werden. Linda Waack diagnostiziert in den Film- und Medienwissenschaften eine implizite «Verbindlichkeit, sich [auch] unterhalb des Kanons zurecht zu finden», also nicht nur souverän über das «Gemeinwissen» des populären Kanons zu verfügen, sondern auch über das «Geheimwissen» jener oft ebenso verbindlich vorausgesetzten Filme und Texte, die nicht zu den bekannten ‹Klassikern› des Fachs gehören.6
Ein Studierender aus Hildesheim sieht aber in dieser Unkenntnis über gewisse gegenkanonische Filme auch eine Chance:
Die Unbekanntheit der Filme ist ihr produktives Element. Mein persönliches Unwissen um ihre Kontexte machte sie mir im Rahmen einer kanonkritischen Haltung erst zugänglich. Versuche, Kanonkritik durch kanonisierte Werke zu erschließen, scheinen mir daher weniger fruchtbar. Mein Unwissen um die Filme versetzte mich erst in die Lage, für mich selbst abzuwägen, ob und wie ich diese Filme für eine Diskussion oder mein persönliches Wissen produktiv machen kann. Diese Haltung ist gegenüber anerkannten, kanonischen Filmen meines Erachtens nicht möglich – sie sind Pflicht. Die Haltung, von den Filmen ausgehend zu entscheiden, inwiefern eine Einordnung in Kanones ihnen nutzen würde, ist die Kür.
Aaron Katzenmayer (Hildesheim)
Das Wissen über bestimmte Materialien hat zuletzt immer etwas mit ihrer Verfügbarkeit zu tun. Einen sensiblen, kritischen Umgang mit bestehenden Kanones zu erproben, erfordert Recherchearbeit, entsprechende Infrastrukturen und gegenseitige Unterstützung bei der kritischen Einordnung des Materials.
Mit dem Kurs ‹Einführung in die Filmgeschichte: Weltkino› haben wir Studierenden ein sehr international kuratiertes Programm bekommen. […] Das Seminar war in den vergangenen Jahren jedoch ganz anders. Der Fokus lag früher auf westlichen Filmen. Dies hat sich dann aber durch die Nachfrage der Studierenden stark verändert. Der Film La Noire de... hat Jahr für Jahr überzeugt, und die Dozentin wurde gefragt, ob sie mehr internationale Filme in das Seminar einbauen könnte. Ihr gefiel die Idee, und dadurch hat sich dann im folgenden Jahr der Seminarplan entsprechend verändert.
(Orkan Gülec, HBK)
Ausblick
Durch das Seminar ist mir zum ersten Mal überhaupt bewusst geworden, dass ein Kanon nicht immer statisch, selbstverständlich und vorgegeben ist, sondern auch dynamisch sein kann. Vor dem Seminar habe ich die Kanonisierungsprozesse vermutlich ganz einfach hingenommen, ohne sie kritisch zu reflektieren.
(Clara Schlüter, RUB)
Das Seminar ‹Kanonkritische Filmwissenschaft› hat in Bezug auf den Problemkomplex eine Wirkung wie Pandoras Box: einmal geöffnet, lässt sie sich nicht wieder schließen und auf einmal fallen Prozesse der (Un-)Sichtbarmachung überall auf. Der Titel ‹Filmwissenschaft› limitiert die tatsächlich behandelten Inhalte des Seminars meiner Meinung nach sogar, weil sich diese Erkenntnis nicht nur auf Filme oder das Kino beschränkt, sondern alle konsumierbaren Medien umfasst.
(Simon Joshua Büttner, HBK)
Die Auseinandersetzung mit Kanonizität scheint ein Bedürfnis vieler Studierender zu sein – nicht nur im Bereich des Films. Kanonkritische Kurse, sowie die Thematisierung von Kanonisierungsprozessen – warum lesen wir einen bestimmten Text? – sind unbedingt notwendig und sollten stärker in das medienwissenschaftliche Curriculum verankert werden.
Unsere Seminare haben vor diesem Hintergrund deutlich gemacht, dass es zum einen einer weitergehenden Auseinandersetzung bedarf: konkret mit Kanonisierungsprozessen in anderen medialen Gegenstandsbereichen abseits des Films, aber auch in methodisch-theoretischer Hinsicht mit dem Kanon als Konzept. Das genaue Verhältnis zwischen Kanonizität und Konzepten wie kultureller Hegemonie, Eurozentrismus oder (Post-)Kolonialismus wäre unserer Meinung nach theoretisch weiter zu präzisieren, ebenso das Zusammenspiel des Konzepts Kanon mit Attributen wie westlich, männlich oder weiß, die sich mit kanonisch zwar überschneiden, aber nicht immer deckungsgleich sind.
Zum anderen fiel uns auf, dass es für kanonkritische Herangehensweisen in Seminaren auch nötig ist, mit anderen Seminarformaten zu experimentieren. Durch den Listencharakter der Seminarpläne besteht das in unseren Augen ungelöste Problem, bestehende Kanones tendenziell eher zu verfestigen.
Daran anknüpfend stellen wir uns die Frage, wie wir mit einer bestimmten Sammlung von Texten und Filmen zu einer fundierten Kritik bestehender Kanonverhältnisse gelangen können. Die Idee, Filme als kanonisch und nicht-kanonisch gegenüberzustellen hat im Kurs in Bochum nicht immer gut funktioniert – sie produziert binäre Gegenüberstellungen und sortiert Filme mit komplexen Entstehungs- und Rezeptionsgeschichten in grob vereinfachte Schubladen ‹Kanon› und ‹Nicht-Kanon›. Kurse, die sich kritisch mit dem Konzept des Kanons beschäftigen, müssen mit der Herausforderung umgehen, die hegemoniale Geschichtsschreibung rund um bestimmte Texte und Filme einerseits zu problematisieren, andererseits auch nicht durch das bloße Hinzufügen von Texten oder Filmen zu ignorieren oder zu verzerren.7 Das Problem, das sich in Braunschweig zeigte, war dahingehend von einem ‹zu viel› geprägt: eine kritische Perspektive auf Kanones beinhaltete sowohl das Kennen(lernen) des Kanons, des Problematisieren dessen, sowie die stellenweise Präsentation eines Gegenkanons. In wöchentlichen 1½-stündigen Sitzungen sind wir dementsprechend oft an die zeitlichen Grenzen gestoßen. Insofern könnte auch in Hinblick auf die zeitliche Struktur mehr experimentiert werden.
Notwendig scheint uns also, andere Formen des Seminars auszuprobieren, über strukturelle Alternativen zu Listen, chronologischen Abfolgen oder Vollständigkeitsansprüchen nachzudenken, unser «Verständnis von akademischer Bildung insgesamt» (Ina Diallo, Hildesheim) zu überprüfen – und gegebenenfalls auch andere Methoden der Kritik zu erproben.
- 1Wir möchten uns an dieser Stelle nochmal bei allen Studierenden der Kurse bedanken – für ihre äußerst produktiven Antworten und ihre Zeit, und auch für alle Teilnehmenden der Kurse für die offenen Schilderungen und Diskussionen. Ohne sie wäre dieser Text nicht möglich gewesen.
- 1Martin, Adrian: Light My Fire: The Geology and Geography of Film Canons, Essay auf filmcritic.com, April 2001/Februar 2008, www.filmcritic.com.au/essays/canons.html (27.11.2023).
- 2Vgl. Arbeitskreis Kanonkritik: Welcher Kanon, wessen Kanon? Eine Einladung zur Diskussion, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14 Heft 26, 2022, 159–171, hier 159 f., doi.org/10.25969/mediarep/18119.
- 3Hannah Kielholt schreibt dazu weiter und über das frühe Kino hinaus: «Was mein Filmkanon im Studium geworden ist, hat meinen persönlichen Kanon und seine Offenheit für anderes enorm erweitert, was für mich erst einmal ein Vorteil ist, denn ein Kanon bedeutet irgendwo auch eine Zusammenstellung an die man sich halten kann, wenn man Neues kennenlernt.»
- 4Vgl. Louis Breitsohl und Elisabeth Mohr: The West and the Rest. Antirassistische Arbeit als kontinuierliche Praxis des Befragens, Zuhörens und Ansprechens (in) der Filmwissenschaft, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 14, Heft 26, 2022, 66–77, hier 73, doi.org/10.25969/mediarep/18127.
- 5Vgl. Jiré Emine Gözen: Arbeiten am, mit und gegen den Kanon, Eintrag in GAAAAP_The Blog, 06.02.2023, zfmedienwissenschaft.de/online/gaaap-blog/arbeiten-am-mit-und-gegen-den-kanon (27.11.2023).
- 6Linda Waack: Kanon als das, was man nicht nicht kennen darf, Eintrag in KWI-BLOG, 14.04.2020, blog.kulturwissenschaften.de/waack-kanon/ (27.11.2023).
- 7Vgl. Waack: Kanon als das, was man nicht nicht kennen darf. Vgl. John Guillory: Cultural Capital: The Problem of Literary Canon Formation, Chicago 1993, 15–19.
Bevorzugte Zitationsweise
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