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Brigitta Kuster: Grenze filmen. Eine kulturwissenschaftliche Analyse audiovisueller Produktionen an der Grenze Europas, Bielefeld (transcript 2018)

Brigitta Kuster: Grenze filmen. Eine kulturwissenschaftliche Analyse audiovisueller Produktionen an der Grenze Europas, Bielefeld (transcript 2018)

Onlinebesprechung

Grenze filmen

17.9.2019

«We did not cross the border, the border crossed us», sagen die migrantischen Aktivist_innen an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze. Die Kategorisierung der Migration und die Person des_der Migrant_in existieren nicht jenseits der Formierung von Nation und Volk. Im Land der Ankunft bleibt diese Kategorie für die grenzüberschreitende Bewegung die anhaltende Bezeichnung für diejenigen, die nicht zum eigentlichen Volk gehören und als ‹fremd› gekennzeichnet bleiben. Migrantische Praxen werden durch die Wahrnehmungsraster der (Staats-)Grenze codiert. Doch die Grenze ist nicht allein die Sache von Staaten, sie wird durch die grenzüberschreitende Migration permanent herausgefordert, verschoben, neu komponiert.

Brigitta Kuster zeigt in ihrem Buch Grenze filmen wie sehr eine politische Philosophie der Migration mit Film und Kino verschränkt werden muss, um der staatlichen Rasterung von Migration zu entkommen. Inspiriert von Gilles Deleuze und Félix Guattari, von Michel de Certeau, Donna Haraway und Jacques Derrida hat Kuster eine Studie vorgelegt, die mit auf der Grenze getanzten, komplizenhaften filmischen Narrativen ein neues Sehen der Migration anbietet.

Grenze filmen ist ein überbordendes Buch, das Sichtweisen auf Migration in Filmklassikern und Dokumentarfilmen analysiert und mit unzähligen Verweisen auf digitales audiovisuelles Material aus Fernsehen, Internet, DVDs, Kunstausstellungen und Handyvideos verwebt. Es ist mit dem Wissen der vielfältigen Repräsentationskritiken feministischer und postkolonialer Theorie geschrieben, wie auch durch produktive Verkettungen von Film, Border und Migration Studies sowie den Analysen von Alltagspraxen der Cultural Studies. Grenze filmen ist voll von präzisen politisch-ökonomischen und soziokulturellen Informationen zu geopolitischen und gesellschaftlichen Transformationen wie auch zu einzelnen Filmen und der besonderen Musik der Migration.

In der Analyse der Filme wird eine affektive Praxis und taktische Narration der Migration ausgelotet, die sich schließlich vollends mit den Handyvideos entfaltet, die auf offenem Meer von jungen Migrant_innen aufgenommen wurden, die mit anderen zusammen auf windigen Booten das Mittelmeer durchqueren. Mit ihrem Buch Grenze filmen reformuliert Brigitta Kuster die Theorie der Migration ebenso wie die Theorie des Dokumentarfilms, und forciert einen Paradigmenwechsel an den Überlappungen der Autonomie der Migration mit den audiovisuellen Praxen ihrer Protagonist_innen.

Versteht man mit de Certeau die Grenze als ein epistemisches und praktisches Paradox, dann ist sie nicht einfach eine Linie der Trennung, sondern immer zugleich auch eine des Kontakts. Ohne die Berührung an der Grenze gibt es keine Unterscheidung, und auch keine Migration. Das Ziehen der Grenze ist stets ambivalent. Migrant_innen sind nicht einfach ausgeschlossene Fremde, sie sind Akteur_innen, die mit den Grenzziehungen eine bestimmte Subjektivierung annehmen. Die Überschreitung der Grenze wird zum performativen und damit auch zum schöpferischen Akt, eine Produktivität der Migration, die für den dominanten Blick des ›Westens‹ oft nicht wahrnehmbar ist.

Der Pass samt Passfoto steht in der Genealogie des passing, des Passierens, des Passieren-Lassens, des Passierscheins. Der Pass, im Französischen «passeport»,  geht wahrscheinlich sowohl auf das Passieren von Personen und auch Waren in einem Hafen zurück als auch auf den «slave pass», die von ihren Besitzern ausgestellte Erlaubnis für eine_n Sklav_in, sich ohne ihn_sie zu bewegen; passing bedeutet auch als weiß durchzugehen, wenn weiße Haut selbst den Pass darstellt, jenen rassifizierten Ausweis des autonomen Individuums. Passing ist aber auch eine Praxis, dominante Formen der Wahrnehmung anzufechten und Konventionen oder gesellschaftliche Unterscheidungen zu übertreten. Passing kann eine Taktik sein, als Passagier durchzugehen, gewöhnlich zu werden, den entscheidenden Rasterungen an der Grenze zu entgehen und durchgewunken zu werden. Kuster zeigt immer wieder, dass, auch wenn das Passbild vor der Migration kommt, es die Migration ist, die ihre Bilder zum Zirkulieren bringt. Nicht die dominante Wahrnehmung macht die Bilder (von) der Migration, sie kann sie gar nicht abbilden. Das zeigt sich besonders am passing down for research, dem Sich-gemein-machen aus einer überlegenen Position heraus, um mit den  Protagonist_innen auf Tuchfühlung zu gehen, die portraitiert und erforscht werden sollen, um sich einzufühlen. Es sind Praxen, die in ‹westlicher› Wissensproduktion oder im investigativen Journalismus häufig zu beobachten sind, beispielsweise in der Just-in-Time Bilderproduktion an der Seite von Migrant_innen. Kuster macht in ihrer Kritik solcher ästhetischer Praxen der Authentifizierung deutlich, wie die Frage der Komplizenschaft die Bewegungen der Migration durchzieht.

Am Film I see the stars at noon (UK 2004) von Saeed Taji Farouky fragt Kuster, wie Filme-Machen aussieht, das nicht über, sondern mit den Praktiken der Migration operiert. Der Filmemacher Saeed folgt Abdelfattah, der von Marokko über das Mittelmeer nach Europa gelangen will. Das Projekt des Films ist nicht nur von der Bewegung Abdelfattahs abhängig, sondern auch von der Zeitdauer seiner Migration, will es den gesamten Weg mitgehen und dokumentieren. Das ist gewöhnlich die geforderte Narration eines begleitenden Dokumentarfilms. Doch hier läuft es anders. Abdelfattah weigert sich vor der Kamera, sich selbst als Protagonisten im Film zu repräsentieren, allein für sich zu sprechen, während Saeed versucht, der neutrale Filmemacher hinter der Kamera zu bleiben und sich nicht als Person zu involvieren. Abdelfattah insistiert darauf, dass es nicht nur für den Film wichtig ist, dass Saeed ihn versteht. Nicht nur diese Szene zeigt der Film, sondern auch die Forderung von Abdelfattah, ihm das restliche noch nötige Geld für die Überfahrt zu geben. Der Film sei schließlich angewiesen auf den illegalisierten Grenzübertritt nach Europa. Beide versuchen, taktisch mit dem Projekt des anderen umzugehen. Immer wieder wird ausgehandelt, wie weit die Komplizenschaft von Film und Migration geht, die getrennten Rollen von Autor und Protagonist beginnen sich aufzulösen. Der Weg dieser Produktion ist nie gradlinig, er verändert sich unentwegt, es gibt vielfältige vor- und rückgreifende Zeitlinien. Dann entschließt sich Saeed um den Preis, nicht »an der Geschichte« dranzubleiben und nicht den ganzen Weg zu gehen, klassischer Autor seines Films zu bleiben, der auch die Verwertungsrechte besitzt. Damit verspielt er Abdelfattah als Person und als Freund, so Kuster, und gewinnt ihn als Figur seines Films zurück. Zugleich vergibt sich Saeed und dem Film damit die Möglichkeit, sich mit der narrativen Struktur des bordercrossing komplizenhaft zu verschränken, sich überhaupt der Narration der Migration weiter anzunähern. Er kann sich Abdelfattahs implizitem Vorwurf einer missbräuchlichen und ausbeuterischen ästhetischen Verwertung nicht entziehen. All die dem Filmprojekt eingeschriebenen Herrschaftsverhältnisse reflektiert der Regisseur bei der Fertigstellung des Films, und vielleicht ist I see the stars at noon auch deshalb ein Film, der die Verhältnisse der Migration und des klandestinen bordercrossings so deutlich artikuliert. Kuster zeigt, wie der Film an eine Grenze stößt, an der etwas umschlägt, etwas artikulierbar wird. Abdelfattah verweigert es, über seine Erfahrungen der Migration zu sprechen, sie zu repräsentieren. Und gerade dadurch wird deutlich, dass Migration ein dynamisches soziales Verhältnis ist, an dem auch das Filmemachen beteiligt ist. Film und Grenzüberschreitung konstituieren sich wechselseitig. Niemand migriert alleine.

Kuster spürt die Sozialität der Migration auf, die sozialen Bande, in denen die taktische Narration des bordercrossing lesbar wird, und findet sie beispielhaft in Elia Kazans Spielfilm America, America (USA) aus dem Jahr 1963. Hier zeigen sich die Bande der Komplizenschaft zwischen den beiden Protagonisten Stavros und Hohannes als wechselseitige Verantwortlichkeit in den Ausbeutungs- und Gewaltverhältnissen, die sie fliehen. Es sind Bande der Verflechtung und Verkettung mit dem_der Kompliz_in. Es geht nicht um Verschmelzung, nicht darum, eins zu werden, sondern um vielfältig Geteiltes in der extremen Prekarität, um Berührungen und Affizierungen auf dem niemals linearen Weg an der Grenze. Nahezu am Ende der Überfahrt nach Amerika springt Stavros in eine auf Deck Walzer tanzende Gesellschaft aus der ersten Klasse hinein und beginnt laut schreiend einen wirbelnden Tanz, einen ekstatischen Strudel von Bewegungen, mehr oder weniger auf der Stelle. Dieses tanzende Außer-sich-Geraten ist im Film unter anderem mit der ersten Begegnung zwischen Stavros und Hohannes gegengeschnitten und, nun an Bord, mit dessen Lächeln, wenn er seinen Freund derart tanzen sieht. Dann springt Hohannes über Bord, seine Schuhe lässt er zurück. Die Komplizenschaft ist vollends besiegelt, wenn Stavros mit dem phonetischen Namen seines Freundes als Joe Arness nach Amerika einreist.

In Anlehnung an Paul Valéry und seine Unterscheidung von Tanz und Gang/Gehen unterstreicht Kuster, dass der Tanz das Gegenteil des Vorankommens ist und in America, America die entscheidende Bewegung des bordercrossings darstellt: nicht als eine geographische Linie, sondern als eine von komplizenhafter, nicht-identitärer Subjektivierung und von Zeit. In der Parallelmontage wird alles gleichzeitig gegenwärtig, die Gegenwart verdichtet und intensiviert sich mit der Vergangenheit und setzt die voranschreitende, die lineare Zeit aus. Im Wirbel des Tanzes entsteht die Kraft zum illegalen Grenzübertritt, eine Kraft, die auch, so Kuster, maßgeblich aus dem tierischen Schreien erwächst, das sich mit dem transatlantischen Raum, mit race und blackness verbindet.

Die erste Klasse gerade nicht zu affirmieren, sich dafür zu entscheiden, nicht als dermaßen privilegiertes Subjekt zu passen, gehört zur entscheidenden Narration und zur intensiven Bewegung der Migration, die die Ordnungen von Raum und Zeit aussetzt und verändert. Niemand migriert illegal als autonomes Rechtssubjekt. Diese Migration sprengt die humanistische Engführung. Sie läuft auf eine Grenze zu, an der sich alles dreht und die Zeit aus den Fugen gerät – und man die Sterne zu Mittag sieht. In der klandestinen Migration ist die materielle und verkörperte Existenzweise keine vereinzelte mehr, sondern eine, die immer mehr oder weniger ist als eins. Und genau dieses «Tier-Werden» der Migration produziert in den Affizierungen Mobilität, so Kuster, aber niemals mit einem eindeutigen Ziel der Ankunft, denn der_die Migrant_in weiß nie, wann, wo und als wer er_sie ankommt.

Was aber, wenn Passagiere in der Transitzone stecken bleiben? Was, wenn die Zeit des Tanzes sich zum Stillstand intensiviert und diejenigen, die sich bewegen, nicht ankommen, weil sie nicht bleiben können oder wollen? Sir, Alfred Mehran (Mehran Karimi Nasseri) lebte achtzehn Jahre lang, von 1988 bis 2006, im Terminal 1 des Pariser Flughafens Charles de Gaulle. Über und mit ihm entstanden zahlreiche Filme und Fernsehbeiträge. Kuster folgt den Bildsequenzen und den Dialogen und zeigt, wie sie alle am Werden des Sir, Alfred Mehran scheitern. Dieses Werden lässt sich nicht dokumentarisch enthüllen. Wenn er gefilmt wird, heißt es nur, dass er seine Rolle «gut» macht. Jeder Film erfindet ihn als Bewegungsbild, zu dessen Story es gehört, dass er die Reise fortsetzt, weitergeht und den Flughafen verlässt. Aber er möchte lieber nicht. Er lächelt immer wieder in die Kamera und verschwört sich mit den Zuschauer_innen. Trotz aller Reflexion in den Filmen selbst, bleibt ihnen am Ende immer nur, die vierte Filmwand wieder hochzuziehen und Sir, Alfred Mehran als Filmfigur, als nichtpassierender Passagier auf dem Flughafen zurückzulassen. 

Der nichtpassierende Passagier ist einer, der sich im Unwahrnehmbar-Werden übt, darin, auf der Reise an Ort und Stelle wie die anderen Passagiere zu werden: wie jedermann auf der Durchreise. Um dieses Werden zu sehen, muss man eine Wahrnehmung entwickeln, die zwischen den Dingen liegt, so Kuster. Unwahrnehmbar-Werden bedeutet auch bis heute, das dominante koloniale Blickregime zu unterlaufen. Das Kino der Migration verweigert die koloniale Zeit und betont die Gleichzeitigkeit und die Verwobenheit von Europa und Afrika. Der arabische Markt steht paradigmatisch für die Angst vor Kontrollverlust sowie die Verführung des paranoiden kolonialen Blicks. Erst das Kino der Migration ist in der Lage, solche Orte wie den Markt, an denen die eurozentrische Welt aus den Fugen gerät, solche Zonen des Vermischens und der Gleichzeitigkeit als eigenständig und nicht als defizitär zu reflektieren. Auch deshalb zeigt das Kino der Migration Bilder des Meeres als einen Raum, der erst in seiner Durchquerung entsteht, aus der Mitte und von Innen heraus, und gibt das Auf-dem-Meer-Sein zu sehen und die entangled histories. Wie jene zwischen Algerien und Frankreich beispielsweise. Bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1962 umfasste Algerien achtzig Prozent des französischen Territoriums und war als Teil Frankreichs nicht nur Mitglied der Montanunion, sondern ab 1957 auch der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Im Zuge von Visumspflicht und Schengener Abkommen entstand in den späten 1980er Jahren eine neue Aufteilung des Raums zwischen Maghreb und Europa. Und mit dieser Zeit tauchen die harraga auf, diejenigen, die vor der Überfahrt nach Europa ihre Pässe verbrennen, um nicht identifizierbar zu sein und in die Länder ihrer Pässe zurückgeschickt zu werden.

Von den harraga, wie sich die überwiegend jungen Migrant_innen selbst bezeichnen, finden sich auf YouTube unzählige Handyvideos, Video-Assemblagen, die eine eigensinnige Geschichte der Migration artikulieren. Sie sind auf offener See gefilmt, nur wenige Minuten lang, auf einem windigen Boot während einer Reise von nicht mehr als 20 Stunden – wenn es gut geht. Das Boot wird zur Bühne, nacheinander werden Soli dargebracht, viele junge Frauen sind zu sehen, gemeinsam werden harraga-Songs gesungen und sich zugeprostet. Im Zwischenraum, inmitten des Meeres zeigen die Handyfilme Feste und Improvisation. Die Fluchtlinien der Migration lassen das bordercrossing als affektive Berührung entstehen – sowohl an der Grenze (de Certeau) als auch des sozialen Gefüges der Migrierenden. Und auch diese Handyfilme repräsentieren, so Kuster, nicht die Erfahrungen der Migration. Vielmehr materialisieren sie diese Erfahrungen als eine verbindende Kraft, die etwas verändert. Mitten auf dem Meer entsteht eine filmische Dynamik, die eine migrantische «Affektik» (Kuster) zu sehen gibt, etwas Alltägliches und Weltveränderndes wird unter oder über der dominanten Wahrnehmungsschwelle von jenen artikuliert, die bereit sind, alles zu verlieren, die ohne Identität aufgebrochen sind, um Jedermann zu werden, Passagiere, die passieren. Zugleich bedeutet das Benutzen der neuesten Handytechnik auch, im andauernden Wirbel in der Passage eine Ortung zu ermöglichen – sowohl durch die Polizei wie auch durch ein rettendes Schiff.

Migration wird heute über weite Strecken als Skandal verhandelt, und selbst linke Positionen gehen selten über reaktive Haltungen gegen diese Skandalisierung hinaus. Grenze filmen führt in diese festgefahrene Lage eine Differenz ein: Aus einer vermischt philosophischen und film- und kulturwissenschaftlichen Perspektive zeichnet das äußerst lesenswerte Buch eine prekäre Karte, wie die Migration über das Mittelmeer Europa an seinen Grenzen destituiert und zugleich von Neuem konstituiert.

Bevorzugte Zitationsweise

Lorey, Isabell: Grenze filmen. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/grenze-filmen.

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