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Onlinebesprechung

Das Undenkbare filmen. Atomkrieg im Kino

15.8.2014

Der vorliegende Band ist aus einer von den Herausgebern organisierten Vorlesungs- und Filmreihe zum Atomkriegskino hervorgegangen, die im Rahmen des Graduiertenkollegs «Transnationale Medienerreignisse» an der Universität Gießen stattfand. Im Vergleich zur Vorlesung sind die theoretischen Betrachtungen breiter ausgefallen und die Auswahl der Filme hat sich leicht verändert. Die Herausgeber heben in der Einleitung hervor, dass es ihnen bei der Auswahl der Beiträge nicht darum gegangen sei, kanonische Filme des Atomkriegskinos chronologisch zu behandeln; ein Ansatz, den etwa Jerome F. Shapiro in seiner Studie Atomic Bomb Cinema teilweise verfolgt. Stattdessen begründe sich, wie die Herausgeber in ihrer ebenso konzisen wie informativen Einleitung betonen, die Auswahl der Filme dadurch, dass sie sich in besonders kreativer Weise mit den «drei Problemfelder[n] WissenMacht und Medien» (S. 17) auseinandersetzten.

Während die Beiträge konsequent um diese Problemfelder kreisen, stellen sich die meisten Autorinnen und Autoren außerdem dem im Titel des Bandes implizierten Paradox: Wie kann man das Undenkbare filmen? Die Frage, wie Filme das medial umsetzen, was als eines der undenkbaren Ereignisse schlechthin gilt, der Nuklearkrieg, ist eine treibende Kraft des Buches. Der Titel des Bandes spielt darüberhinaus clever auf das Diktum des US-Strategen Herman Kahn (des realen Vorbildes für die Figur des Dr. Strangelove in Kubricks gleichnamiger Atombombensatire) an. Kahn forderte, das Undenkbare zu denken, so etwa, wie die USA einen Atomkrieg gegen die UdSSR gewinnen könnten. Während Kahn ein anti-apokalyptisches Szenario eines beherrschbaren Nuklearkrieges propagierte, unterstreichen die Herausgeber die Nähe der filmischen Bilder des Atomkriegs zur apokalyptischen Tradition. Die theoretisch dichte Einleitung, die von Leibniz über Lacan, Derrida, Deleuze bis zu Virillo reicht und auch eine knappe Genealogie der Diskurse zur Apokalypse liefert, ist trotz der hohen theoretischen Reflexion kurzweilig zu lesen. Es lassen sich nur wenige Auslassungen finden. So bleibt Voltaires satirische Kritik in Candide an Leibniz' Theodizee, an seiner Idee von der «besten aller möglichen Welten», unerwähnt. Dieser Bezug hätte vielleicht das Argument der Herausgeber noch weiter gestärkt, dass die Kritik an Leibniz entscheidend zur vermehrten Aufkommen von apokalyptischen Weltszenarien beigetragen habe. Die Schlussfolgerung der Einleitung, dass Atomkriegsfilme «die diskursiven Konstellationen des Kalten Kriegs» (S.16) entscheidend mit geprägt hätten, dürfte selbst für Skeptiker konstruktivistischer Ansätze einleuchtend sein.

Überblickend lässt sich feststellen, dass sich alle sechs Beiträge des Bandes fachlich auf hohem Niveau befinden und eine anregende Lektüre bieten. Im ersten Beitrag «Das Unvermeidliche vermeiden. Jayne Loaders, Kevin and Pierce Raffertys The Atomic Café (1982)» demonstriert Sascha Simons, dass für diesen aus found footage zusammengestellten und mit split screens arbeitenden Film das Montageprinzip entscheidend ist. Theoretisch reflektiert verortet Simons The Atomic Café in der Tradition der Montage seit der klassischen Moderne. Diese These leuchtet ein, doch gerät der als «Kurzreferat» angekündigte, informative Exkurs über die Montagetheorie seit Walter Benjamin leider etwas zu lang. Zu Simons so prägnanter wie überzeugender Schlussfolgerung, «das verfilmte Undenkbare ist die Möglichkeit, auf die Bombe zu verzichten» (50), hätte man sich weitere Kontextualisierungen (etwa mit Kahns Theorien) gewünscht, oder zumindest ausführlichere Belege, die diese These durch eine Szenen- oder Bildanalyse illustrieren würden. Während Simons solche Analysen in seinem Aufsatz wiederholt sehr souverän und überzeugend vornimmt, scheint am Schluss der Platz zu fehlen, um seine abschließende These ähnlich stringent zu belegen.

Der zweite Aufsatz, Johannes Pauses «Will the Survivors Watch TV? Peter Watkins' The War Game (1965)» beschäftigt sich mit dessen skandalumwobenen Fernsehfilm. Kurz vor seinem Ausstrahlungstermin von der BBC auf Druck des Innenministeriums abgesetzt, ist The War Game bisher vor allem unter dem Aspekt dieses Fernsehskandals diskutiert worden. Pause geht einen anderen Weg und weist minutiös nach, wie Watkins mit seinem Film eine schwarze Satire auf die offiziellen ‹Informationsfilme› der britischen Regierung (sprich: Propagandafilme), die civil defense films, liefert. Während diese (à la Kahn) eine Beherrschbarkeit des nuklearen Ernstfalles suggerieren, führt The War Game diese Logik ad absurdum: Die Atombombe führt nicht nur zu einer fast vollständigen Zerstörung der militärischen und zivilen Infrastruktur, sondern auch zum Zusammenbruch der Zivilgesellschaft. Pauses prägnante Analyse, wie The War Game die heutzutage bizarr-optimistisch anmutenden Atomkriegsspiele in den zeitgenössischen Zivilschutzfilmen dekonstruiert, ist fesselnd. Dies trifft auch auf Pauses zweite Hauptthese zu, dass Watkins' die (Seh)-Gewohnheiten und Machtstrukturen des Fernsehens ad absurdum führe. So läuft die Kamera im Atomkrieg weiter und fängt etwa nachrichtentypische Interviews mit Überlebenden des Atomangriffs ein, selbst als es keinen Strom mehr gibt. Watkins Film entlarve das Fernsehen als Machtinstrument der herrschenden Ordnung, einen «autoritären, pädagogischen und entmündigen Charakter des Fernsehens» (S. 77), den es auch durch seinen Allgegenwartsanspruch verkörpere. Watkins parodiere diesen Anspruch, indem er in seinem Atomkriegsfernsehfilm die Grenzen dieses Omnipotenzanspruchs deutlich mache. Wie The War Game vorführt, zeige sich der «Atomkrieg […] in seiner Realität als so undarstellbar wie undenkbar» (S. 78).

Tobias Nanz geht in «Ausfallsicher. Sidney Lumets Fail-Safe (1964)» der Frage nach, inwiefern technische und mediale Strukturen den Atomkrieg gegen den Willen der Menschen auslösen können, welche gerade diese Schreckensszenario heroisch zu verhindern suchten. Als fail-safe (ausfallsicher oder notfallsicher) erweist sich ironischerweise fast nichts in diesem Film: nicht der Computer, der die falsche Nachricht von einem nuklearen Angriff der Sowjetunion an eine US-Bomberstaffel ausgibt, nicht die Systeme, die dann den Ernstfall verhindern sollen, noch die Menschen, welche sie operieren und zu kontrollieren versuchen, und doch dabei auf die Unfehlbarkeit der Technik beharren. Nanz liest den Film sehr überzeugend mit Lacans psychoanalytischer Theorie der symbolischen Ordnung, was aufgrund der eindrucksvollen, stark psychoanalytisch beeinflussten, anfänglichen Traumszene naheliegt. Für Nanz markiert die Atombombenexplosion Lancans Reale, das sich außerhalb der symbolischen Ordnung, der semiotische Machtordnung der Gesellschaft, befinde und diese unterlaufe. Bei Nanz' theoretisch reflektierter aber gleichzeitig sehr spannend zu lesenden Analyse würde man sich als Leserin oder Leser nur noch wünschen, dass die verstreuten Verweise auf Kubricks Dr. Strangelove (1964), der auf der gleichen Romanvorlage wie Fail-Safe basiert, zu einem Minivergleich ausgebaut wären worden — aber dies hätte wahrscheinlich den Rahmen des Aufsatzes gesprengt.

Barbara Wurm widmet sich in ihrem Beitrag zu «Zeiten des Endes. Konstantin Lopušanskijs Briefe eines Toten (1986)» diesem spätsowjetischen, stark apokalyptischen Film. Sie liefert eine Vielzahl von sehr informativem Hintergrundmaterial etwa über die politische Situation in der UdSSR zu diesem Zeitpunkt und über den Regisseur und seine Verbindung zu Tarkovsky (mit dessen Filmen sie Briefe eines Toten vergleicht). Auch Wurms Verortung von Lopušanskijs Konzept einer apokalyptischer ‹Endzeit› in einer christlichen, apokalyptischen Tradition scheint mir abgesichts Lopušanskijs nachgewiesener Religiosität als sehr schlüssig. Schade ist hingegen, dass die Analyse der so großartig wie beklemmenden, farblosen apokalyptischen Bilder in Briefe eines Toten etwas kurz kommt.

In «Umkreisung, Stillstand, Tod. Chris Markers La Jetée (1962)» konzentriert sich Lars Novak bei Markers ‹Film› auf dessen Behandlung des Atomkriegs (ein in der mannigfaltigen Literatur zu La jetée meist vernachlässigter Aspekt). Markers ‹Film› unterscheidet sich von allen anderen Gegenstandsbeispielen in dem vorliegenden Band dadurch, dass es sich bei ihm streng genommen gar nicht um einen Film, sondern einen Photoessay handelt. Von einem ‹Film› zu sprechen wie Novak (und viele Kritiker), finde ich problematisch; La jetée besteht tatsächlich fast ausschließlich aus mit einer Spiegelreflexkamera aufgenommen Photos (nicht «Standbildern», wie Novak schreibt). Diese Behauptung eines Filmcharakters scheint mir dann auch in leichtem Widerspruch zu Novaks sehr einleuchtender Behauptung zu stehen, dass Marker mit seinem Bild von der Erschießung des Protagonisten in La Jetée ein weiteres Foto und keinen Film zitiert: Robert Capas so ikonisches wie umstrittenes Foto Tod eines Milizionärs (1936). Abgesehen von diesem vielleicht peniblen Kritikpunkt ist der Aufsatz exzellent. Novaks ausführliche und sehr souveräne Analyse weist u.a. Markers Auseinandersetzung mit der apokalyptischen Ikonographie nach, betont aber gleichzeitig, dass La jetée großes Gewicht auf die Zeit vor dem Atomschlag legt. Nicht zuletzt durch seine komplexe, zirkuläre Zeitstruktur impliziert Marker, dass die Katastrophe bereits lange vor dem Beginn der totalitären Welt nach dem atomaren Krieg begonnen hat.

Der Band schließt mit dem Beitrag «Krieg spielen. Bruce Conners Crossroads (1976)» von Eva Kernbauer. Conners Film besteht hauptsächlich aus nahezu endlos wiederholten, in extremer Zeitlupe gezeigten Bildern von der Atombombenexplosion der Unterwasserexplosion der Atombombe Baker, die Teil der Testserie Operation Crossroads am 25. Juli 1946 im Bikini-Atoll war. Kernbauer liefert eine Vielzahl von kulturgeschichtlichen Hintergrundinformationen zum Test und vergleicht Conners Film mit den zeitgenössischen Propagandafilmen des Militärs. Dennoch werden viele Leserinnen und Leser wohl nicht hundertprozentig von Kernbauers These, dass Conners Zelebration des Sublimen der Atombombenexplosion, ähnlich den US-Propagandafilmen, auch eine Zelebration dieser Waffe darstelle, überzeugt sein. Dazu erscheinen mir Conners ästhetische Verfremdungstechniken (falscher ‹Original›-Soundtrack, die qualvolle, schier endlose Wiederholung der Explosion) doch zu subversiv.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass dieser Band einen wichtigen Beitrag für die deutschsprachige Forschung zum Atomkriegskino darstellt, gerade auch deshalb, da nicht-kanonische Filme behandelt werden. Einzig das Fehlen eines Beitrages zu Kubricks kanonischer Satire Dr. Strangelove; or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (der noch Teil der Vorlesungsreihe war), ist bedauernswert. Dadurch hätte sich auch viel produktives Vergleichspotential geboten, besonders mit dem von Tobias Nanz besprochenen Fail-Safe, der auf der gleichen literarischen Vorlage fußt. Die Beiträge bewegen sich durchweg auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau und bieten auch zumeist sehr viel (kultur-)geschichtlichen Hintergrund, was zum besseren Verständnis der Argumente und der behandelten Filme beiträgt. Bei manchen Beiträgen hätte man sich eine stärkere Auseinandersetzung mit der impliziten Frage des Buchtitels gewünscht: Kann man (und wann ja: wie) das Undenkbare filmen? Insgesamt ist Das Undenkbare filmen. Atomkrieg im Kino ein sehr empfehlenswerter, spannend zu lesender Band. Er wird von Expertinnen und Experten zum Atomkriegskino genauso wie dem breiteren akademischen, an der Kulturgeschichte des Atomkriegs und des Kalten Kriegs interessierten Publikum mit Gewinn gelesen werden.

August 2014

Bevorzugte Zitationsweise

Hörmann, Raphael: Das Undenkbare filmen. Atomkrieg im Kino. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, ZfM Online, Onlinebesprechung, , https://zfmedienwissenschaft.de/online/das-undenkbare-filmen-atomkrieg-im-kino.

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